HRRS Ausgabe 5/2013 - hrr-strafrecht.de
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Aufsätze und Anmerkungen Begemeier – Reichweite <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen Auslegung im <strong>de</strong>utschen Straf- und Strafverfahrensrecht<br />
1. Betroffene Verfahrensvorschriften<br />
Da das <strong>de</strong>utsche Strafverfahrensrecht eine Beweiswi<strong>de</strong>rlegungslast<br />
<strong>de</strong>s Täters nicht kennt, müssten zahlreiche<br />
Normen einschränkend ausgelegt wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>r Richtlinie<br />
zu entsprechen: Nach <strong>de</strong>m in § 261 StPO normierten<br />
Grundsatz <strong>de</strong>r freien Beweiswürdigung ist <strong>de</strong>r Richter<br />
nicht an Beweisregeln gebun<strong>de</strong>n. 79 Darüber hinaus<br />
obliegt es gemäß §§ 155 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO <strong>de</strong>m<br />
Gericht und <strong>de</strong>r Staatsanwaltschaft, alle Tatsachen und<br />
Beweise zu ermitteln, die für eine Verurteilung erfor<strong>de</strong>rlich<br />
sind. 80 Auch das Schweigerecht gemäß §§ 136 Abs. 2<br />
S. 2, 243 Abs. 5 S. 1 StPO, aus <strong>de</strong>ssen Wahrnehmung<br />
sich keine Nachteile für <strong>de</strong>n Beschuldigten ergeben dürfen,<br />
ist von <strong>de</strong>r Vermutung betroffen. 81<br />
2. Auslegungsspielraum im nationalen Recht<br />
Eine Pflicht, die einschlägigen Normen nach <strong>de</strong>n Vorgaben<br />
<strong>de</strong>r Richtlinie auszulegen, besteht nur dann, wenn<br />
das nationale Recht einen Auslegungsspielraum bietet.<br />
Eine systematische Zusammenschau <strong>de</strong>r aufgezählten<br />
Vorschriften zeigt aber bereits, dass dies nicht <strong>de</strong>r Fall<br />
ist. Zu<strong>de</strong>m verbieten gleich mehrere verfassungsrechtliche<br />
Grundprinzipien <strong>de</strong>s Strafverfahrens eine <strong>de</strong>rartige<br />
Auslegung. 82<br />
a) Unschuldsvermutung<br />
Die Unschuldsvermutung hat in Deutschland Verfassungsrang.<br />
Sie hat ihren Ursprung in <strong>de</strong>m in Art. 20 Abs.<br />
3 GG normierten Rechtsstaatsprinzip, das unter an<strong>de</strong>rem<br />
gebietet, belasten<strong>de</strong> Maßnahmen nur auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />
eines Gesetzes zu treffen. 83 Das Strafrecht als „schärfstes<br />
Schwert“ 84 <strong>de</strong>s Staates darf damit nur eingesetzt wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn alle Voraussetzungen eines Tatbestan<strong>de</strong>s vorliegen.<br />
Daraus folgt die Beweislast <strong>de</strong>s Staates. 85 Eine Kausalitätsvermutung<br />
verletzt dieses grundlegen<strong>de</strong> Prinzip <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Strafverfahrens.<br />
b) Schuldprinzip<br />
Zu<strong>de</strong>m entspricht eine Vermutungsregel zu Lasten <strong>de</strong>s<br />
Angeklagten nicht <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen, die sich aus <strong>de</strong>m<br />
Schuldprinzip an das Strafverfahrensrecht ergeben. Der<br />
Grundsatz, dass je<strong>de</strong> Strafe Schuld voraussetzt, hat seine<br />
Grundlage in <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>garantie <strong>de</strong>s<br />
Art. 1 Abs. 1 GG. 86 Das Schuldprinzip gehört zu <strong>de</strong>r nach<br />
Art. 79 Abs. 3 GG nicht verfügbaren Verfassungsi<strong>de</strong>nti-<br />
79<br />
Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), Strafprozessordnung, 2010,<br />
§ 261 Rn. 261; Velten, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO, 4. Aufl.<br />
(2012), § 261 Rn. 1; zum Verhältnis von Beweisregeln und<br />
freier Beweiswürdigung Walter JZ 2006, 340, 341.<br />
80<br />
Monk, in: Graf-StPO (Fn. 79), § 155 Rn. 2; Beulke, in: Erb u.<br />
a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg-StPO, 26. Aufl. (<strong>2013</strong>), § 155<br />
Rn. 8.<br />
81<br />
Gehrmann ZBB 2010, 48, 51.<br />
82<br />
Gehrmann ZBB 2010, 48, 50; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611.<br />
83<br />
Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. (2012),<br />
§ 11 Rn. 1.<br />
84<br />
Hefen<strong>de</strong>hl JA 2011, 401.<br />
85<br />
Walter JZ 2006, 340, 345.<br />
86<br />
BVerfG NJW 2009, 2267 (Rn. 364).<br />
tät. 87 Wer die Erfüllung <strong>de</strong>s Tatbestan<strong>de</strong>s vermutet, aber<br />
nicht nachweist, <strong>de</strong>r unterstellt auch Schuld. 88 Ein Auslegungsspielraum<br />
ist damit auch durch das Schuldprinzip<br />
beschränkt.<br />
3. Vereinbarkeit mit <strong>de</strong>m gesamten<br />
Unionsrecht<br />
Darüber hinaus spricht auch das Unionsrecht gegen eine<br />
Übertragung <strong>de</strong>r Kausalitätsvermutung in das <strong>de</strong>utsche<br />
Strafverfahrensrecht. In Art. 6 Abs. 2 EMRK ist eine<br />
Unschuldsvermutung nie<strong>de</strong>rgelegt, die gemäß<br />
Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeiner Rechtsgrundsatz <strong>de</strong>s<br />
Unionsrechts gilt. Im Falle einer „<strong>strafrecht</strong>lichen“ 89<br />
Anklage garantiert sie ein faires Verfahren, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Beweis <strong>de</strong>s Tatvorwurfs geführt wer<strong>de</strong>n muss. 90 Zwar<br />
schließt die Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR eine Beweislastumkehr<br />
nicht prinzipiell aus, doch auch <strong>de</strong>r EGMR betont,<br />
dass wegen <strong>de</strong>r Einschränkung <strong>de</strong>r Verteidigungsrechte<br />
die Verhältnismäßigkeit strikt zu wahren sei. 91 In<br />
seiner Entscheidung begrün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r EuGH die Vereinbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Kausalitätsvermutung mit Art. 6 Abs. 2 EMRK<br />
allein mit einem Verweis auf die Rechtsprechung <strong>de</strong>s<br />
EGMR. 92 Für ein Verwaltungsverfahren dürfte die Kausalitätsvermutung<br />
<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s EGMR entsprechen.<br />
Da <strong>de</strong>r Unschuldsvermutung in einem echten<br />
Strafverfahren aber ein höherer Stellenwert zukommt,<br />
dürfte die Bewertung <strong>de</strong>s EGMR hier an<strong>de</strong>rs aussehen. 93<br />
Auch Art. 6 Abs. 2 EMRK kann damit einer <strong>de</strong>n Vorgaben<br />
<strong>de</strong>s EuGH entsprechen<strong>de</strong>n Auslegung wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
Nach alle<strong>de</strong>m bleibt festzuhalten, dass bereits das <strong>de</strong>utsche<br />
Strafverfahrensrecht keinen Auslegungsspielraum<br />
für eine Kausalitätsvermutung bietet. 94 Darüber hinaus<br />
verbieten je<strong>de</strong>nfalls verfassungsrechtliche Prinzipen <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utschen Strafverfahrens eine <strong>de</strong>rartige Auslegung. 95<br />
Folglich besteht keine Pflicht, im Wege <strong>de</strong>r unionsrechtskonformen<br />
Auslegung eine Beweislastumkehr in das<br />
<strong>de</strong>utsche Strafprozessrecht zu integrieren.<br />
87<br />
BVerfG NJW 2009, 2267 (Rn. 364).<br />
88<br />
Ransiek wistra 2011, 1, 2.<br />
89<br />
Zwar setzt <strong>de</strong>r Wortlaut <strong>de</strong>s Art. 6 II EMRK eine <strong>strafrecht</strong>liche<br />
Anklage voraus, <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Strafe ist aber autonom<br />
auszulegen. Der EGMR prüft anhand <strong>de</strong>r nationalen<br />
Einstufung <strong>de</strong>r Sanktion, <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Verfehlung und <strong>de</strong>r<br />
Art und Schwere <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n Rechtsfolge, ob ein Vorwurf<br />
<strong>strafrecht</strong>lich einzuordnen ist. Der Vorwurf eines sozialethischen<br />
Ta<strong>de</strong>ls setzt <strong>de</strong>r EGMR nicht als zwingen<strong>de</strong>s<br />
Element <strong>de</strong>r Strafe voraus.<br />
90<br />
Gae<strong>de</strong>, Fairness als Teilhabe (Fn. 55), S. 228 ff. m.w.N.<br />
91<br />
Langenbucher/Brenner/Gellings BKR 2010, 133, 135.<br />
92<br />
EuGH Slg. 2009, 12100, 12123 (Spector); kritisch Nietsch<br />
ZHR 2010, 557, 579; Opitz BKR 2010, 72, 73; Langenbucher/Brenner/Gellings<br />
BKR 2010, 133, 135.<br />
93<br />
Langenbucher/Brenner/Gellings BKR 2010, 133, 135; Nietsch<br />
ZHR 2010, 557, 579.<br />
94<br />
Gehrmann ZBB 2010, 48, 50; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611.<br />
95<br />
Gehrmann ZBB 2010, 48, 51; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611;<br />
Bussian WM 2011, 8, 9; Flick/Lorenz RIW 2010, 381, 383;<br />
Ransiek wistra 2011, 1, 4.<br />
<strong>HRRS</strong> Mai <strong>2013</strong> (5/<strong>2013</strong>)<br />
185