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Liquid Archives –<br />
Notes on Relations, Ruptures and Silences<br />
Anna Schneider<br />
Die Ausstellung Liquid Archives hinterfragt die<br />
Mechanismen der Geschichtsproduktion. Die<br />
Idee von Geschichte als einer unumstößlichen,<br />
großen Erzählung, die sich aus den Tiefen vermeintlich<br />
statischer Archive speist, wird dekonstruiert.<br />
Der Begriff des „flüssigen Archivs“<br />
steht hierbei vor allem <strong>für</strong> einen alternativen<br />
Zugang zu globaler Geschichte und politischer<br />
Gegenwart. Ermöglicht wird dieser Perspektivwechsel<br />
durch die Hinwendung zu einer ozeanischen<br />
Betrachtungsweise. Die Idee dieses<br />
Maritime Turns funktioniert als eine Art Gegenentwurf<br />
zu terrestrischer Betrachtung. Letztere<br />
erzählt primär von Nationalstaatlichkeit und<br />
Abgrenzung. Die ozeanische Perspektive hingegen<br />
lebt von der Vision multilateraler Geschichten,<br />
verbunden durch weite räumliche und lange<br />
zeitliche Bögen. Das Meer, per se global – physisch<br />
und ideell, wird als ursprüngliche Struktur<br />
der globalen Vernetzung verstanden, und die<br />
Metaphorik des Meeres wird in interdisziplinären<br />
Ansätzen als Methode genutzt, politische, ökonomische<br />
und kulturelle Zusammenhänge neu<br />
zu überdenken. Maritimer Wandel meint also<br />
einen Denkraum, der in Verbindung mit dem<br />
Phänomen der Globalisierung einen neuen<br />
Zugang zu Geschichte und Gegenwart herstellt.<br />
Der hier dargestellte Ansatz findet sich in<br />
künstlerischer Praxis oftmals bereits realisiert.<br />
Dies zu zeigen, ist die Absicht der Ausstellung<br />
Liquid Archives. Die Arbeiten der 19 Künstler-<br />
Innen aus 12 Ländern befassen sich alle, wenn<br />
auch in unterschiedlicher Weise mit der Überschreitung<br />
von Grenzen, seien sie zeitlicher,<br />
räumlicher oder formaler Natur oder sei es die<br />
Grenze zwischen Realität und Fiktion. Sie alle<br />
sind daran beteiligt, Ansätze einer alternativen<br />
Moderne in ihrem Zirkulieren um Themen wie<br />
Archiv, Konstruktion des Wissens, Gleichzeitigkeit<br />
der Ungleichzeitigkeit, Mobilität, Verbindung<br />
und Grenzen zu artikulieren und damit, über die<br />
Perspektive des Ozeanischen, neue (Zwischen-)<br />
<strong>Räume</strong> zu eröffnen und bewusst zu machen.<br />
Den gedanklichen Ausgangspunkt bildet<br />
Frédéric Bruly Bouabré (*1923, Elfenbeinküste),<br />
der sich seit seinem zwanzigsten Lebensjahr<br />
als Autodidakt mit Literatur, Ästhetik, Geschichte,<br />
Naturwissenschaften, Politik und Religion<br />
beschäftigt. Mitte der 60er Jahre beginnt er<br />
unter dem Titel Connaissance du Monde eine<br />
Kosmogonie – einen Werkzyklus, der die enzyklopädische<br />
Sammlung der Erkenntnisse der<br />
Welt zum Ziel hat. Die kleinformatigen, stets aus<br />
einem Bild und einem Textelement zusammengesetzten<br />
Zeichnungen sind einer archivarischen<br />
Praxis verpflichtet, relativieren jedoch<br />
dominante, westliche Taxonomien. Sie zeigen<br />
eine andere, nur zum Teil fassbare Ordnungsstruktur.<br />
Das Gleiche gilt <strong>für</strong> die Arbeit des aus<br />
Algerien stammenden, in Deutschland lebenden<br />
Künstlers und Designers Hamid Zenati<br />
(*1944), der sich in einem zutiefst autonomen<br />
Bilduniversum bewegt.<br />
Die Suche nach einer Ordnung, die fotografischer<br />
Logik, der Materialisierung der Realität<br />
und der Psychologie des Fotografen selbst<br />
gerecht wird, treibt auch Nadim Asfar (*1976,<br />
Libanon) bei der Serie Les Constallations an.<br />
Les Constallations speisen sich aus unzähligen<br />
Fotos, die er vom Balkon seiner Beiruter Wohnung<br />
aufgenommen hat und die er zu großformatigen,<br />
hochauflösenden, sich aus einem<br />
Raster zusammensetzenden Bildern komponiert.<br />
Asfar, der in seinen Arbeiten über die Bedingungen<br />
von Bildproduktion heute reflektiert,<br />
verhandelt mit großer technischer Fertigkeit<br />
die Schnittstelle zwischen Dokument und<br />
Abstraktion, zwischen Nähe und Distanz. Die<br />
Spannung zwischen Abstraktion und Figuration<br />
steht auch im Zentrum der malerischen Auseinandersetzung<br />
von Silke Markefka (*1974,<br />
Deutschland). Die Bilder der Serie Archiv lösen<br />
sich vom Gegenstand und werden zu Feldern<br />
aus Farbe und Form. Und dennoch werden durch<br />
Erinnern die Regalreihen und Mediatheken nicht<br />
ausschließlich als abstraktes Konzept gelesen,<br />
sondern behalten die Qualität eines Nachbildes<br />
des Gedächtnisses. So steht die Serie Archiv<br />
letztlich auch <strong>für</strong> eine Auseinandersetzung<br />
mit der Unmöglichkeit der Speicherung von Zeit.<br />
Mit der Konstruiertheit unseres Wissens,<br />
der damit unausweichlichen Relativierung von<br />
geschichtlichem Narrativ und der zeitlichen<br />
Projekte <strong>2009</strong> | Liquid Archives<br />
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