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PLATFORM3 - Räume für zeitgenössische Kunst - 2009

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viertes auslöschende Brand der Ausnahmefall,<br />

an welchem der prekäre Status desselben<br />

lediglich besonders augenfällig wird. Ist es, so<br />

muss man gerade im Angesicht des perpetuierten<br />

geradezu phantastischen Anschwellens<br />

des Web-Archivs im Terabyte-Maßstab fragen,<br />

nicht eher die Überschwemmung, die alles<br />

gespeicherte Gewusste, das im Archiv abgelegte<br />

Geschehene im Regelfall bedrängt?<br />

Ist es nicht vielmehr die Überflutung des Archivierten<br />

durch einen nicht abreißen wollenden<br />

Strom des neu zu Archivierenden, das nicht<br />

abebben wollende Über- und Unterspültwerden<br />

der Geschichte durch das Andrängen immer<br />

detaillierter erschlossener „alter“ und ständig<br />

hinzukommender „neuer“ Geschichte, worin<br />

die Bedrohung geordneten Wissens von dem,<br />

was war und was in die Gegenwart hinein nachwirkt,<br />

eigentlich begründet liegt?<br />

Um der Geschichte, einem ebenso unaufhörlich<br />

wie multidimensional expandierenden<br />

Feld, im Verstehen so weit und so gut als<br />

möglich beizukommen, haben sich gerade<br />

moderne Archivare philosophischen wie historiographischen<br />

Hintergrunds vielfach als Geschichtenerzähler<br />

versucht: Geleitet von der<br />

Überzeugung, in oder hinter dieser bestimmte<br />

Muster, Kräfte und Prinzipien ausmachen zu<br />

können, haben sie darauf abgezielt, der Geschichte<br />

als dem strukturell unübersichtlichen<br />

Gegenstand ihres Interesses übersichtliche<br />

Form zu geben. So ist die Philosophie in ihrem<br />

Umgang mit Geschichte paradigmatischer<br />

Weise darauf aus, Großnarrative von deren Verlauf<br />

und innerer Konstitution zu entwickeln.<br />

Wesentlich kreisen diese um Figuren des Fortschritts<br />

(Hegels Gedanke eines sich immer<br />

umfassender entfaltenden „Weltgeistes“), des<br />

Verfalls (Heideggers Gedanke einer sich immer<br />

weiter verfestigenden „Seinsvergessenheit“)<br />

oder des Zyklus (Nietzsches Gedanke einer<br />

„ewigen Wiederkehr des Gleichen“). Durch<br />

derlei formale Schemata soll der kaum zu<br />

fassende Fluss des Geschehens bzw. der Erfahrung<br />

des Geschehens konzeptuell eingefangen<br />

und als sinnvolle, nicht zuletzt auch<br />

dramaturgisch gehaltvolle Ganzheit begreifbar<br />

werden. Insbesondere sind dramatic narratives<br />

philosophischer Provenienz darauf ausgerichtet,<br />

der Gegenwart einzigartige Bedeutsamkeit<br />

zuzuschreiben, indem diese entweder – so<br />

unter den Titeln Vernunft und Freiheit – zum<br />

Gipfelpunkt, oder aber – so unter den Titeln<br />

Entfremdung und Selbstverlust – zum Tiefpunkt<br />

menschheitlicher Entwicklung erhoben wird.<br />

Eine dritte Möglichkeit, das Heute als in außergewöhnlicher<br />

Weise geschichtlich relevant zu<br />

profilieren, besteht schließlich darin, dieses<br />

zur „Krise“ zu erklären, zu derjenigen Wasserscheide<br />

also, an welcher sich alle weitere<br />

Zukunft der Menschheit endgültig entscheiden<br />

wird. „Modernität“, bemerkt Michel Foucault<br />

mit Blick auf derartig großformatige Ansätze,<br />

die – mögen sie nun teleologisch, eschatologisch<br />

oder apokalyptisch ausfallen – sämtlich<br />

suggerieren, die geheimen inneren Verlaufsgesetze<br />

der Geschichte decodiert zu haben,<br />

„ist der Wille, die Gegenwart zu heroisieren.“<br />

Obzwar in der Regel kleinteiliger ansetzend,<br />

ist auch die Geschichtswissenschaft darauf<br />

aus, durch wohlgeordnete Narrative dem Herr<br />

zu werden, was Foucault als das „Wimmeln“<br />

der Geschichte bezeichnet. Um überschaubare<br />

Geschichten – von Prozessen des Aufstiegs,<br />

Niedergangs und Umbruchs, von Schwellenund<br />

Sattelzeiten, von Epochenscheiden und<br />

Paradigmenwechseln – zu konstruieren, werden<br />

unterschiedlichste Erzähltechniken aufgeboten:<br />

Kultur- oder Naturgeschichte, Ideen- oder<br />

Ereignisgeschichte, Begriffs- oder Sozialgeschichte,<br />

Wissenschafts- oder Wirtschaftgeschichte<br />

– die sich bietenden Optionen scheinen<br />

unerschöpflich. Dies gilt freilich nicht nur <strong>für</strong><br />

die Modi der Narration, sondern auch <strong>für</strong><br />

den erzählerisch je thematisierten Plot sowie<br />

das Setting desselben. Denn schier unendlich<br />

ist die Fülle der thematisierbaren Ereignisse<br />

und Zwischenfälle, Personen und Strukturen,<br />

Handlungen und Institutionen, Worte und Bilder<br />

sowie – von der longue durée über die Epoche<br />

bis zur Momentaufnahme, von global über<br />

national bis hin zu lokal – der zeitlich-räumlichen<br />

Ausschnitte, die als separate Geschichten<br />

aus der amorphen Masse „Geschichte“ gewonnen<br />

und als isolierte beleuchtet werden<br />

können. Die je angewandte Erzähltechnik<br />

und der je ausgewählte Ausschnitt sind es,<br />

welche die Resultate historischer Forschung,<br />

die Pointen geschichtswissenschaftlicher<br />

Geschichten bestimmen: Sie sind es, die

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