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PLATFORM3 - Räume für zeitgenössische Kunst - 2009

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dadurch restlos erschließen und präzise kartographieren<br />

zu können, markieren Geschichten<br />

von „ewiger Wiederkehr“ oder „Sonderweg“,<br />

von Kataklysmen oder emanzipatorischen<br />

Kämpfen somit zumindest befahrbare Routen<br />

durch die in diffusen Nebeln liegenden Untiefen<br />

des Vergangenen. Im weit aufgefächerten und<br />

fein zerfaserten Netz der Geschichte bilden<br />

sie Knotenpunkte, die innerhalb desselben<br />

wenigstens basale Orientierung erlauben. Ausgehend<br />

von und immer wieder zurückkehrend<br />

zu den Ankerstellen der Archive, in welchen<br />

sich das „von den Schiffen“ und anderswoher<br />

Zugetragene sichten lässt, haben derlei erzählerische<br />

Entdeckungsfahrten demnach besinnende,<br />

d.h. sinnstiftende Funktion: Ihnen<br />

bzw. den von ihnen gezeitigten ordnenden<br />

Effekten ist es wesentlich geschuldet, dass<br />

Vergangenheit darstellbar, thematisierbar und<br />

– nicht zuletzt in ihrer Bedeutsamkeit <strong>für</strong> Gegenwart<br />

– verstehbar wird.<br />

Im Zuge einer Auseinandersetzung mit<br />

deren Grenzen und Leistungen, mit den diesen<br />

innewohnenden Gefahren und den Gewinnen,<br />

die dank dieser zu erzielen sind, entpuppen<br />

sich sämtliche Geschichten von der Geschichte<br />

somit als Hypostasierungen 1 : Sie sind sowohl<br />

Konstrukte und Unterstellungen als zugleich<br />

auch Fundamente und Grundlagen, auf welchen<br />

weitere Explorationen und Vermessungen der<br />

Historie aufbauen können. Die Gefährlichkeit<br />

von Geschichtsnarrativen ist demnach keine<br />

intrinsische, die sich zwangsläufig daraus<br />

ergäbe, dass diese „produziert“ sind. Vielmehr<br />

zeigt sich, dass diese vom Grad der Verabsolutierung<br />

durch Autor und von der Anerkennung<br />

oder Verkennung des besonderen Status<br />

derselben als Hypostasierungen, als Unterstellungen<br />

und Vorschläge abhängen: Gefährlich<br />

werden derartige Geschichten erst dann<br />

und nur dann, wenn neben den bereits bestehenden,<br />

den naheliegenden, da innerhalb des<br />

je eigenen Kulturkreises und in Übereinstimmung<br />

mit dem je eigenen Wertekanon entworfenen<br />

Erzählungen keine neuen, alternativen<br />

und fremden Narrative zugelassen werden;<br />

Narrative also, die den intrakulturell geteilten<br />

Erfahrungshorizont sowie nicht länger hinterfragte<br />

Vorstellungsgewohnheiten, die diesen<br />

bestimmen, herausfordern und durchkreuzen,<br />

relativieren und gegebenenfalls sogar obsolet<br />

werden lassen. Historische Narrationen, welchen<br />

ihr unterstellt-fundierender Status transparent<br />

ist, zeichnen sich folglich dadurch aus,<br />

dass in ihnen jede „große Schlüsselattitüde“<br />

(Arnold Gehlen), der Gestus, das einzig zutreffende<br />

Verständnis der Vergangenheit zu<br />

präsentieren, fahren gelassen wird. Dementsprechend<br />

kann es als ein zentrales Merkmal<br />

glückender Geschichten angesehen werden,<br />

dass diese offen – <strong>für</strong> Ergänzung, Modifikation<br />

und Revision – gestaltet und gehalten sind.<br />

Daraufhin, in welchem Umfang es ihnen gelingt,<br />

durchlässig, anschluss- und aufnahmefähig<br />

zu bleiben, sind die erzählerischen Entwürfe<br />

der post colonial oder gender studies,<br />

der subaltern oder diaspora studies nicht<br />

weniger kritisch zu befragen als klassische<br />

neuzeitlich-moderne historische Erzählungen,<br />

deren maßgeblicher Referenzpunkt der<br />

Nationalstaat ist.<br />

Aus diesem Blickwinkel besehen, kann der<br />

so genannte maritime turn nicht bedeuten,<br />

seit jeher dominante tellurisch-terrestrisch<br />

verankerte Narrative als verfehlt zu brandmarken<br />

und zu ersetzen. Allerdings eröffnet<br />

er Möglichkeiten, altgewordene Denkroutinen<br />

kritisch zu überprüfen, zu erschüttern und<br />

nachdrücklich auf den Fragment-Charakter<br />

derselben zu verweisen; Möglichkeiten,<br />

die Bibliothek der Geschichten von der<br />

Geschichte nicht nur zu erweitern, sondern<br />

entscheidend zu bereichern.<br />

Florian Grosser (*1980) studierte Politikwissenschaft,<br />

Philosophie und Geschichte an den Universitäten München,<br />

Aix-en-Provence und Berkeley. Derzeit schließt er seine<br />

Promotion an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-<br />

Maximilians-Universität München ab.<br />

1 Das griechische Verb hyphístemi bedeutet einmal (transitiv)<br />

„etwas darunter stellen (zur Stützung)“, zudem aber<br />

auch (intransitiv) „sich darunter stellen“, d.h. „darunter stehen<br />

(als Fundament)“.

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