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dadurch restlos erschließen und präzise kartographieren<br />
zu können, markieren Geschichten<br />
von „ewiger Wiederkehr“ oder „Sonderweg“,<br />
von Kataklysmen oder emanzipatorischen<br />
Kämpfen somit zumindest befahrbare Routen<br />
durch die in diffusen Nebeln liegenden Untiefen<br />
des Vergangenen. Im weit aufgefächerten und<br />
fein zerfaserten Netz der Geschichte bilden<br />
sie Knotenpunkte, die innerhalb desselben<br />
wenigstens basale Orientierung erlauben. Ausgehend<br />
von und immer wieder zurückkehrend<br />
zu den Ankerstellen der Archive, in welchen<br />
sich das „von den Schiffen“ und anderswoher<br />
Zugetragene sichten lässt, haben derlei erzählerische<br />
Entdeckungsfahrten demnach besinnende,<br />
d.h. sinnstiftende Funktion: Ihnen<br />
bzw. den von ihnen gezeitigten ordnenden<br />
Effekten ist es wesentlich geschuldet, dass<br />
Vergangenheit darstellbar, thematisierbar und<br />
– nicht zuletzt in ihrer Bedeutsamkeit <strong>für</strong> Gegenwart<br />
– verstehbar wird.<br />
Im Zuge einer Auseinandersetzung mit<br />
deren Grenzen und Leistungen, mit den diesen<br />
innewohnenden Gefahren und den Gewinnen,<br />
die dank dieser zu erzielen sind, entpuppen<br />
sich sämtliche Geschichten von der Geschichte<br />
somit als Hypostasierungen 1 : Sie sind sowohl<br />
Konstrukte und Unterstellungen als zugleich<br />
auch Fundamente und Grundlagen, auf welchen<br />
weitere Explorationen und Vermessungen der<br />
Historie aufbauen können. Die Gefährlichkeit<br />
von Geschichtsnarrativen ist demnach keine<br />
intrinsische, die sich zwangsläufig daraus<br />
ergäbe, dass diese „produziert“ sind. Vielmehr<br />
zeigt sich, dass diese vom Grad der Verabsolutierung<br />
durch Autor und von der Anerkennung<br />
oder Verkennung des besonderen Status<br />
derselben als Hypostasierungen, als Unterstellungen<br />
und Vorschläge abhängen: Gefährlich<br />
werden derartige Geschichten erst dann<br />
und nur dann, wenn neben den bereits bestehenden,<br />
den naheliegenden, da innerhalb des<br />
je eigenen Kulturkreises und in Übereinstimmung<br />
mit dem je eigenen Wertekanon entworfenen<br />
Erzählungen keine neuen, alternativen<br />
und fremden Narrative zugelassen werden;<br />
Narrative also, die den intrakulturell geteilten<br />
Erfahrungshorizont sowie nicht länger hinterfragte<br />
Vorstellungsgewohnheiten, die diesen<br />
bestimmen, herausfordern und durchkreuzen,<br />
relativieren und gegebenenfalls sogar obsolet<br />
werden lassen. Historische Narrationen, welchen<br />
ihr unterstellt-fundierender Status transparent<br />
ist, zeichnen sich folglich dadurch aus,<br />
dass in ihnen jede „große Schlüsselattitüde“<br />
(Arnold Gehlen), der Gestus, das einzig zutreffende<br />
Verständnis der Vergangenheit zu<br />
präsentieren, fahren gelassen wird. Dementsprechend<br />
kann es als ein zentrales Merkmal<br />
glückender Geschichten angesehen werden,<br />
dass diese offen – <strong>für</strong> Ergänzung, Modifikation<br />
und Revision – gestaltet und gehalten sind.<br />
Daraufhin, in welchem Umfang es ihnen gelingt,<br />
durchlässig, anschluss- und aufnahmefähig<br />
zu bleiben, sind die erzählerischen Entwürfe<br />
der post colonial oder gender studies,<br />
der subaltern oder diaspora studies nicht<br />
weniger kritisch zu befragen als klassische<br />
neuzeitlich-moderne historische Erzählungen,<br />
deren maßgeblicher Referenzpunkt der<br />
Nationalstaat ist.<br />
Aus diesem Blickwinkel besehen, kann der<br />
so genannte maritime turn nicht bedeuten,<br />
seit jeher dominante tellurisch-terrestrisch<br />
verankerte Narrative als verfehlt zu brandmarken<br />
und zu ersetzen. Allerdings eröffnet<br />
er Möglichkeiten, altgewordene Denkroutinen<br />
kritisch zu überprüfen, zu erschüttern und<br />
nachdrücklich auf den Fragment-Charakter<br />
derselben zu verweisen; Möglichkeiten,<br />
die Bibliothek der Geschichten von der<br />
Geschichte nicht nur zu erweitern, sondern<br />
entscheidend zu bereichern.<br />
Florian Grosser (*1980) studierte Politikwissenschaft,<br />
Philosophie und Geschichte an den Universitäten München,<br />
Aix-en-Provence und Berkeley. Derzeit schließt er seine<br />
Promotion an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-<br />
Maximilians-Universität München ab.<br />
1 Das griechische Verb hyphístemi bedeutet einmal (transitiv)<br />
„etwas darunter stellen (zur Stützung)“, zudem aber<br />
auch (intransitiv) „sich darunter stellen“, d.h. „darunter stehen<br />
(als Fundament)“.