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PLATFORM3 - Räume für zeitgenössische Kunst - 2009

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letztlich die Einschätzung bedingen, ob Europa<br />

seine – über Jahrhunderte hinweg und bis<br />

in die Gegenwart hinein anhaltende – überdurchschnittliche<br />

Prosperität den klimatischen<br />

Segnungen des Golfstroms oder einer „Kultur<br />

der Arbeit“, einem besonders ausgeprägten<br />

Erfindungsreichtum, einer außergewöhnlich<br />

rücksichtlosen Politik oder schlicht einer Verkettung<br />

glücklicher Umstände und Zufälle<br />

zu verdanken habe. Dass der Grad der Stimmigkeit<br />

und Kohärenz in dieser Art entworfener<br />

Erzählungen maßgeblich von Mechanismen<br />

der Selektion, von Auslassungen, Marginalisierungen<br />

und Verdrängungen, seien diese nun<br />

beabsichtigt oder nicht, abhängt, welche der<br />

Historiker als Erzähler in seinem Versuch,<br />

Geschehenes zu interpretieren, vornimmt bzw.<br />

nicht zu vermeiden weiß, versteht sich dabei<br />

von selbst.<br />

Was also ist von diesem Bestreben, Geschichte<br />

einzuholen, sie in Archiven zu sammeln<br />

und in möglichst eingängigen Narrativen zu<br />

organisieren, zu halten? Worin bestehen die<br />

Gefahren, worin die Gewinne des Unterfangens,<br />

das hochdynamische und hyperkomplexe<br />

Gebilde des Namens „Geschichte“ nicht nur<br />

festzustellen, sondern darüber hinaus auch<br />

zu entschlüsseln und auf einen Nenner zu<br />

bringen, mag es sich bei diesem Nenner um<br />

vergleichsweise Profanes wie den Golfstrom<br />

oder um Erhaben-Entrücktes wie den „Weltgeist“<br />

handeln?<br />

Als problematisch erweist sich die skizzierte<br />

Überführung von vergangenem Geschehen<br />

in Geschichten, sobald dem jeweiligen Autor<br />

derselben (sowie seiner Leserschaft) jeder Sinn<br />

da<strong>für</strong> fehlt, in welchem Maße diese stets auf<br />

einer interpretativen, einer konstruktiven Leistung<br />

beruht. Problematisch ist also eine Verabsolutierung<br />

und Überhöhung des narrativ<br />

Entwickelten zum unerschütterlichen Tatbestand,<br />

zur einzig zulässigen Lesart vergangener<br />

Phänomene und Prozesse und deren Auswirkungen<br />

auf die Gegenwart. In solcher Verabsolutierung<br />

wird nicht allein die Beschränktheit<br />

des eingenommenen Blickwinkels unterschlagen,<br />

aus welcher die Lückenhaftigkeit alles in<br />

Gestalt von Geschichten Dargelegten – selbst<br />

der umfassendst ansetzenden, materialreichsten<br />

und detailgenauesten historischen Studie –<br />

notwendigerweise folgt. Vielmehr verkennt ein<br />

Geschichte(n)erzähler, sobald er von dem<br />

Glauben geleitet ist, den bird’s eye view, eine<br />

Perspektive uneingeschränkten und ungetrübt<br />

objektiven Überblicks, einnehmen zu können,<br />

zudem ein Zweifaches: Zum einen die Nicht-<br />

Neutralität des Archivs, der in diesem aufbewahrten<br />

Quellen, des darin gehorteten Wissens;<br />

denn was in dieses – ob akzidentell zugeflogen<br />

oder systematisch akquiriert – gelangt, kann<br />

nicht mehr sein als Fragment des Wirklichen,<br />

so dass sich das Archiv als Institution kontingenten<br />

Charakters erweist. Zum anderen<br />

die – gleichsam potenzierte – Nicht-Neutralität<br />

des Narrativs, das auf Grundlage der dem<br />

spezifischen Erzähler je zugänglichen Wissensspeicher<br />

generiert wird; denn das diesem<br />

archivarisch bereitgestellte vorselektierte und<br />

vorkategorisierte Material unterzieht dieser,<br />

indem er selbst weiter auswählt, verschlagwortet<br />

und zuspitzt, einem Prozess der Formgebung,<br />

welcher – wie jeder Akt der Interpretation<br />

– arbiträren, ja geradezu gewalttätigen<br />

Charakters ist. So reflektiert jede Geschichte<br />

von der Geschichte in unvermeidbarer Weise<br />

auch die konkreten Interessen, Präferenzen<br />

und Werturteile, die biographischen und kulturellen<br />

Vorprägungen ihres Erzählers sowie<br />

die herrschenden Produktionsbedingungen mit.<br />

Allein, die Tatsache, dass Narrative über<br />

Geschichte in dieser Art produziert sind, reicht<br />

nicht aus, sie zu bloß fiktionalen, letzten Endes<br />

beliebigen Konstrukten auszurufen und – unter<br />

Rekurs auf den Allgemeinplatz, Geschichte<br />

werde immer von Siegern geschrieben –<br />

gänzlich darauf zu reduzieren, bestehende<br />

Machtkonstellationen abzubilden, ja selbst<br />

Machtinstrumente darzustellen. Der Verweis<br />

auf die Konstruiertheit derselben genügt also<br />

nicht, um ihnen jegliche Legitimation abzusprechen.<br />

Vielmehr erweisen sich geschichtsphilosophische<br />

und geschichtswissenschaftliche<br />

Narrationen ihrer Gemachtheit zum Trotz<br />

insofern als unverzichtbar, als erst sie es sind,<br />

die es möglich machen, den unübersichtlichen<br />

Ozean des Geschehenen immerhin in Ausschnitten<br />

zu überschauen. Auch ohne diesen<br />

Projekte <strong>2009</strong> | Liquid Archives<br />

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