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letztlich die Einschätzung bedingen, ob Europa<br />
seine – über Jahrhunderte hinweg und bis<br />
in die Gegenwart hinein anhaltende – überdurchschnittliche<br />
Prosperität den klimatischen<br />
Segnungen des Golfstroms oder einer „Kultur<br />
der Arbeit“, einem besonders ausgeprägten<br />
Erfindungsreichtum, einer außergewöhnlich<br />
rücksichtlosen Politik oder schlicht einer Verkettung<br />
glücklicher Umstände und Zufälle<br />
zu verdanken habe. Dass der Grad der Stimmigkeit<br />
und Kohärenz in dieser Art entworfener<br />
Erzählungen maßgeblich von Mechanismen<br />
der Selektion, von Auslassungen, Marginalisierungen<br />
und Verdrängungen, seien diese nun<br />
beabsichtigt oder nicht, abhängt, welche der<br />
Historiker als Erzähler in seinem Versuch,<br />
Geschehenes zu interpretieren, vornimmt bzw.<br />
nicht zu vermeiden weiß, versteht sich dabei<br />
von selbst.<br />
Was also ist von diesem Bestreben, Geschichte<br />
einzuholen, sie in Archiven zu sammeln<br />
und in möglichst eingängigen Narrativen zu<br />
organisieren, zu halten? Worin bestehen die<br />
Gefahren, worin die Gewinne des Unterfangens,<br />
das hochdynamische und hyperkomplexe<br />
Gebilde des Namens „Geschichte“ nicht nur<br />
festzustellen, sondern darüber hinaus auch<br />
zu entschlüsseln und auf einen Nenner zu<br />
bringen, mag es sich bei diesem Nenner um<br />
vergleichsweise Profanes wie den Golfstrom<br />
oder um Erhaben-Entrücktes wie den „Weltgeist“<br />
handeln?<br />
Als problematisch erweist sich die skizzierte<br />
Überführung von vergangenem Geschehen<br />
in Geschichten, sobald dem jeweiligen Autor<br />
derselben (sowie seiner Leserschaft) jeder Sinn<br />
da<strong>für</strong> fehlt, in welchem Maße diese stets auf<br />
einer interpretativen, einer konstruktiven Leistung<br />
beruht. Problematisch ist also eine Verabsolutierung<br />
und Überhöhung des narrativ<br />
Entwickelten zum unerschütterlichen Tatbestand,<br />
zur einzig zulässigen Lesart vergangener<br />
Phänomene und Prozesse und deren Auswirkungen<br />
auf die Gegenwart. In solcher Verabsolutierung<br />
wird nicht allein die Beschränktheit<br />
des eingenommenen Blickwinkels unterschlagen,<br />
aus welcher die Lückenhaftigkeit alles in<br />
Gestalt von Geschichten Dargelegten – selbst<br />
der umfassendst ansetzenden, materialreichsten<br />
und detailgenauesten historischen Studie –<br />
notwendigerweise folgt. Vielmehr verkennt ein<br />
Geschichte(n)erzähler, sobald er von dem<br />
Glauben geleitet ist, den bird’s eye view, eine<br />
Perspektive uneingeschränkten und ungetrübt<br />
objektiven Überblicks, einnehmen zu können,<br />
zudem ein Zweifaches: Zum einen die Nicht-<br />
Neutralität des Archivs, der in diesem aufbewahrten<br />
Quellen, des darin gehorteten Wissens;<br />
denn was in dieses – ob akzidentell zugeflogen<br />
oder systematisch akquiriert – gelangt, kann<br />
nicht mehr sein als Fragment des Wirklichen,<br />
so dass sich das Archiv als Institution kontingenten<br />
Charakters erweist. Zum anderen<br />
die – gleichsam potenzierte – Nicht-Neutralität<br />
des Narrativs, das auf Grundlage der dem<br />
spezifischen Erzähler je zugänglichen Wissensspeicher<br />
generiert wird; denn das diesem<br />
archivarisch bereitgestellte vorselektierte und<br />
vorkategorisierte Material unterzieht dieser,<br />
indem er selbst weiter auswählt, verschlagwortet<br />
und zuspitzt, einem Prozess der Formgebung,<br />
welcher – wie jeder Akt der Interpretation<br />
– arbiträren, ja geradezu gewalttätigen<br />
Charakters ist. So reflektiert jede Geschichte<br />
von der Geschichte in unvermeidbarer Weise<br />
auch die konkreten Interessen, Präferenzen<br />
und Werturteile, die biographischen und kulturellen<br />
Vorprägungen ihres Erzählers sowie<br />
die herrschenden Produktionsbedingungen mit.<br />
Allein, die Tatsache, dass Narrative über<br />
Geschichte in dieser Art produziert sind, reicht<br />
nicht aus, sie zu bloß fiktionalen, letzten Endes<br />
beliebigen Konstrukten auszurufen und – unter<br />
Rekurs auf den Allgemeinplatz, Geschichte<br />
werde immer von Siegern geschrieben –<br />
gänzlich darauf zu reduzieren, bestehende<br />
Machtkonstellationen abzubilden, ja selbst<br />
Machtinstrumente darzustellen. Der Verweis<br />
auf die Konstruiertheit derselben genügt also<br />
nicht, um ihnen jegliche Legitimation abzusprechen.<br />
Vielmehr erweisen sich geschichtsphilosophische<br />
und geschichtswissenschaftliche<br />
Narrationen ihrer Gemachtheit zum Trotz<br />
insofern als unverzichtbar, als erst sie es sind,<br />
die es möglich machen, den unübersichtlichen<br />
Ozean des Geschehenen immerhin in Ausschnitten<br />
zu überschauen. Auch ohne diesen<br />
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