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PLATFORM3 - Räume für zeitgenössische Kunst - 2009

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Maritime Kritik und die Ränder der Moderne<br />

Iain Chambers<br />

Man kann das Meer, ermutigt durch die Erinnerungen,<br />

die in seinem flüssigen Archiv<br />

suspendiert sind, unter dem Aspekt einer ununterbrochenen<br />

Erosion der Geometrie der<br />

Moderne betrachten. Wenngleich letzere mit<br />

ihren Rändern, Grenzen und Demarkationslinien<br />

ständig bemüht ist, fremdes Material auszuschließen,<br />

kehrt doch stets etwas zurück und<br />

stört das Bild. Die Schwankungen des Meeres<br />

durchkreuzen die transparente Entschlossenheit<br />

der rationalen Gestaltung. Der unwillkommene<br />

Exzess, der historisch in verschiedenen<br />

kulturellen Registern benannt wurde – das<br />

Erhabene, das Unheimliche, das Migrierende,<br />

das Monströse – erinnert nicht nur ständig<br />

an die anderen Seiten der Moderne, sondern<br />

es taucht hier, gleichsam aus der undisziplinierten<br />

Tiefe, eine Unterbrechung, ein Intervall<br />

auf, der auf einer radikalen Neubewertung<br />

jener Sprachen und Logik insistiert, die die Welt<br />

vormals gemäß ihren Bedürfnissen und ihrem<br />

Narzissmus zu formulieren versuchten.<br />

Eine Herausforderung, die ständig in den<br />

kritischen Intervall eingeschrieben ist, wird<br />

am deutlichsten bloßgestellt, wenn die Gewissheiten<br />

terrestrischer Referenten von den<br />

Unsicherheiten des Reisens zur See usurpiert<br />

werden. Das heißt dem Übergang, der Umformung<br />

und der Übersetzung Beachtung<br />

schenken, die mit der Ozeanreise einhergehen,<br />

ob es sich dabei um den Atlantik von gestern<br />

oder das Mittelmeer von heute handelt. Das<br />

Überqueren der scheinbaren Unendlichkeit<br />

des Meereshorizonts, ob erzwungen, bedingt,<br />

ersehnt oder ge<strong>für</strong>chtet, dissemeniert eine<br />

kritische Disposition, die die Normen und den<br />

nomos territorialer Identifikation herausfordert.<br />

Als eine Zwischenzone, in der die vorhandene<br />

politische Geographie und der historische<br />

Maßstab verdünnt und verstreut werden, kann<br />

das Meer nicht mehr einfach nur als unsicherer<br />

Zusatz betrachtet werden. Das Meer wird zum<br />

unvermuteten Ort, wo Geschichte, die sich<br />

sowohl über das Gewässer erstreckt als auch<br />

in seinen Tiefen eingelagert ist, vom Sklaven,<br />

Abtrünnigen, Migranten, Exilanten, Fremden,<br />

Ausgeschlossenen gemacht wird. Es stützt eine<br />

Ökologie, die gegenüber dem menschlichen<br />

Dünkel indifferent sein kann, da die häuslichen<br />

Grenzen des „Menschlichen“ herausgefordert<br />

werden und durch das, was ihren Willen übersteigt,<br />

„Schiffbruch erleiden“ kann.<br />

Das Insistieren auf der zentralen Rolle des<br />

Raums des Meeres und des Ozeans <strong>für</strong> das<br />

Unterfangen der Moderne befördert die Übernahme<br />

einer flüssigeren Kartographie. Die<br />

mutmaßliche Stabilität des historischen Archivs<br />

mitsamt der damit assoziierten „Fakten“ und<br />

die in territorialen Museen, akademischen<br />

Lehrplänen und im politischen Verständnis<br />

vorgeschlagenen kulturellen Identifikationen<br />

können allesamt ins Gleiten gebracht, der<br />

Strömung, ungeplanten Begegnungen, ja selbst<br />

dem Schiffbruch ausgesetzt werden. Deponiert<br />

im Meer (jener „stummen Leere voller Bedeutung“,<br />

Herman Melville) sind Geschichten<br />

und Kulturen, die in einer unbestimmten<br />

Schwebe gehalten werden; verbunden eher als<br />

einfach getrennt durch das Wasser legen sie<br />

andere Geschichten nahe, andere Methoden,<br />

die Moderne zu erzählen. Hier gibt es nicht<br />

registrierte Tempi und <strong>Räume</strong>, die die erklärliche<br />

Logik von linearer Zeit, „Fortschritt“ und<br />

ihre Ideologie akkumulativer Produktivität<br />

ablenken und benebeln. In der Strömung über<br />

die Grenze des rationalen Managements und<br />

die kategorische Trennung, über die begrifflichen<br />

Grenzen vorgeschriebener Historien,<br />

Kulturen und Identitäten hinweg gibt es eine<br />

Heterogenität, die die homogene Erklärung von<br />

Zeit und Raum herausfordert. Erwogen wird<br />

hier das Auftrennen und die Verteilung, nicht<br />

das Annulieren, einer früheren Wissenkonfiguration,<br />

die ihrerseits zu einer Auflösung der<br />

legislativen Autorität der nördlichen Hemisphäre<br />

– des Westens – als einzigem Subjekt<br />

der Geschichte führt. Das heißt das Denken<br />

in unerforschtes Territorium voranzutreiben<br />

und die Herausforderung eines flüssigen Archivs<br />

anzuerkennen.<br />

Das Thema eines flüssigen Archivs hat<br />

radikale Folgen <strong>für</strong> nationale Geschichten, die<br />

die vorherrschende Form des Erzählens der<br />

Vergangenheit sind und daher die Gegenwart,<br />

ebenso wie die mit ihnen einhergehende Verwurzelung<br />

in den geschlossenen territorialen<br />

Grenzen von Blut und Boden, konfigurieren.

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