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Maritime Kritik und die Ränder der Moderne<br />
Iain Chambers<br />
Man kann das Meer, ermutigt durch die Erinnerungen,<br />
die in seinem flüssigen Archiv<br />
suspendiert sind, unter dem Aspekt einer ununterbrochenen<br />
Erosion der Geometrie der<br />
Moderne betrachten. Wenngleich letzere mit<br />
ihren Rändern, Grenzen und Demarkationslinien<br />
ständig bemüht ist, fremdes Material auszuschließen,<br />
kehrt doch stets etwas zurück und<br />
stört das Bild. Die Schwankungen des Meeres<br />
durchkreuzen die transparente Entschlossenheit<br />
der rationalen Gestaltung. Der unwillkommene<br />
Exzess, der historisch in verschiedenen<br />
kulturellen Registern benannt wurde – das<br />
Erhabene, das Unheimliche, das Migrierende,<br />
das Monströse – erinnert nicht nur ständig<br />
an die anderen Seiten der Moderne, sondern<br />
es taucht hier, gleichsam aus der undisziplinierten<br />
Tiefe, eine Unterbrechung, ein Intervall<br />
auf, der auf einer radikalen Neubewertung<br />
jener Sprachen und Logik insistiert, die die Welt<br />
vormals gemäß ihren Bedürfnissen und ihrem<br />
Narzissmus zu formulieren versuchten.<br />
Eine Herausforderung, die ständig in den<br />
kritischen Intervall eingeschrieben ist, wird<br />
am deutlichsten bloßgestellt, wenn die Gewissheiten<br />
terrestrischer Referenten von den<br />
Unsicherheiten des Reisens zur See usurpiert<br />
werden. Das heißt dem Übergang, der Umformung<br />
und der Übersetzung Beachtung<br />
schenken, die mit der Ozeanreise einhergehen,<br />
ob es sich dabei um den Atlantik von gestern<br />
oder das Mittelmeer von heute handelt. Das<br />
Überqueren der scheinbaren Unendlichkeit<br />
des Meereshorizonts, ob erzwungen, bedingt,<br />
ersehnt oder ge<strong>für</strong>chtet, dissemeniert eine<br />
kritische Disposition, die die Normen und den<br />
nomos territorialer Identifikation herausfordert.<br />
Als eine Zwischenzone, in der die vorhandene<br />
politische Geographie und der historische<br />
Maßstab verdünnt und verstreut werden, kann<br />
das Meer nicht mehr einfach nur als unsicherer<br />
Zusatz betrachtet werden. Das Meer wird zum<br />
unvermuteten Ort, wo Geschichte, die sich<br />
sowohl über das Gewässer erstreckt als auch<br />
in seinen Tiefen eingelagert ist, vom Sklaven,<br />
Abtrünnigen, Migranten, Exilanten, Fremden,<br />
Ausgeschlossenen gemacht wird. Es stützt eine<br />
Ökologie, die gegenüber dem menschlichen<br />
Dünkel indifferent sein kann, da die häuslichen<br />
Grenzen des „Menschlichen“ herausgefordert<br />
werden und durch das, was ihren Willen übersteigt,<br />
„Schiffbruch erleiden“ kann.<br />
Das Insistieren auf der zentralen Rolle des<br />
Raums des Meeres und des Ozeans <strong>für</strong> das<br />
Unterfangen der Moderne befördert die Übernahme<br />
einer flüssigeren Kartographie. Die<br />
mutmaßliche Stabilität des historischen Archivs<br />
mitsamt der damit assoziierten „Fakten“ und<br />
die in territorialen Museen, akademischen<br />
Lehrplänen und im politischen Verständnis<br />
vorgeschlagenen kulturellen Identifikationen<br />
können allesamt ins Gleiten gebracht, der<br />
Strömung, ungeplanten Begegnungen, ja selbst<br />
dem Schiffbruch ausgesetzt werden. Deponiert<br />
im Meer (jener „stummen Leere voller Bedeutung“,<br />
Herman Melville) sind Geschichten<br />
und Kulturen, die in einer unbestimmten<br />
Schwebe gehalten werden; verbunden eher als<br />
einfach getrennt durch das Wasser legen sie<br />
andere Geschichten nahe, andere Methoden,<br />
die Moderne zu erzählen. Hier gibt es nicht<br />
registrierte Tempi und <strong>Räume</strong>, die die erklärliche<br />
Logik von linearer Zeit, „Fortschritt“ und<br />
ihre Ideologie akkumulativer Produktivität<br />
ablenken und benebeln. In der Strömung über<br />
die Grenze des rationalen Managements und<br />
die kategorische Trennung, über die begrifflichen<br />
Grenzen vorgeschriebener Historien,<br />
Kulturen und Identitäten hinweg gibt es eine<br />
Heterogenität, die die homogene Erklärung von<br />
Zeit und Raum herausfordert. Erwogen wird<br />
hier das Auftrennen und die Verteilung, nicht<br />
das Annulieren, einer früheren Wissenkonfiguration,<br />
die ihrerseits zu einer Auflösung der<br />
legislativen Autorität der nördlichen Hemisphäre<br />
– des Westens – als einzigem Subjekt<br />
der Geschichte führt. Das heißt das Denken<br />
in unerforschtes Territorium voranzutreiben<br />
und die Herausforderung eines flüssigen Archivs<br />
anzuerkennen.<br />
Das Thema eines flüssigen Archivs hat<br />
radikale Folgen <strong>für</strong> nationale Geschichten, die<br />
die vorherrschende Form des Erzählens der<br />
Vergangenheit sind und daher die Gegenwart,<br />
ebenso wie die mit ihnen einhergehende Verwurzelung<br />
in den geschlossenen territorialen<br />
Grenzen von Blut und Boden, konfigurieren.