Neue Ungleichheit und politische Repräsentation - Universität Trier
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4.1.2 Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen in der Wettbewerbsgesellschaft<br />
Wie vorne schon für die soziale Lage, so ist auch für die subjektiven Orientierungen der von<br />
Einkommens-, Sicherheits- <strong>und</strong> Statusverlusten betroffenen gesellschaftlichen Mitte kein auch<br />
nur einigermaßen einheitliches Bild zu gewinnen. Dies gilt zum einen, weil diese Gruppe sehr<br />
heterogen ist, zum anderen aber auch, weil, wie wir sehen werden, die Literatur für diese<br />
Gruppe gegensätzliche kulturelle <strong>und</strong> gesellschafts<strong>politische</strong> Orientierungen ausmacht. Dass<br />
es sich dabei nicht nur um verschiedene Interpretationen, sondern um einen in der Situation<br />
dieser Gruppen angelegten Gegensatz handelt, lässt sich durch die Ergebnisse einer von Klaus<br />
Dörre, Klaus Kraemer <strong>und</strong> Frederic Speidel durchgeführten qualitativen Erhebung zu den<br />
subjektiven Verarbeitungsformen von Prekarität veranschaulichen (Dörre 2009a). Orientiert<br />
am Zonenmodell Castels unterscheiden die Autoren zwei zentrale Integrationsmodi der<br />
Erwerbsarbeit: „die reproduktiv-arbeitskraftbezogene <strong>und</strong> die subjektiv-sinnhafte, tätigkeitsbezogene<br />
Integration“ (Dörre 2009a: 47). Obwohl soziale Unsicherheit bis weit in die sog.<br />
Zone der Integration reiche <strong>und</strong> hochqualifizierte Arbeitskräfte erfasse, könne bei entsprechender<br />
Ausstattung mit kulturellen <strong>und</strong> finanziellen Ressourcen die Identifikation mit der<br />
Tätigkeit die strukturell angelegte Beschäftigungsunsicherheit zumindest zeitweilig kompensieren.<br />
„Gerade für Hochqualifizierte gilt, dass das Interesse an der Tätigkeit <strong>und</strong> der Freiheitsgewinn,<br />
der mit flexiblen Arbeitsformen einhergeht, das Empfinden sozialer<br />
Unsicherheit überlagert“ (Dörre 2009a: 48).<br />
Begünstigt durch diese Identifikation mit den Arbeitsinhalten tendierten nicht nur Führungskräfte,<br />
sondern auch Spezialisten <strong>und</strong> qualifizierte Angestellte zu einer Verinnerlichung des<br />
Marktzwangs. Dörre sieht unter diesen, sich durch ein professionelles Ethos auszeichnenden<br />
Gruppen ein Bemühen um Bestätigung in der Arbeit, das „mitunter geradezu pathologische<br />
Formen annehmen (kann)“ (Dörre 2009a: 49).<br />
Dieser Bef<strong>und</strong> erinnert an die These von Boltanski/Chiapello, wonach die historische<br />
Entwicklung des Kapitalismus dadurch gekennzeichnet sei, dass er jene Werte in sich<br />
aufnehme, „die zuvor dazu dienten, ihn zu kritisieren“ (Boltanski/Chiapello 2005: 295). Der<br />
Kapitalismus sei gr<strong>und</strong>sätzlich in der Lage, Unterstützung zu generieren, indem er einen<br />
Kompromiss zwischen seiner Akkumulationsabsicht <strong>und</strong> dem Wertesystem seiner Gegner<br />
eingehe. Während so gesehen der organisierte, wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus eine Reaktion<br />
auf die Sozialkritik der Arbeiterbewegung bildet, ist der flexible Kapitalismus der jüngeren<br />
Vergangenheit das Ergebnis der aus der 1968er Bewegung hervorgegangenen, Selbstentfaltungsmöglichkeiten<br />
in der Arbeit einklagenden „Künstlerkritik“. Sie habe dazu beigetragen,<br />
starre hierarchische Arbeitsformen durch flexiblere, stärker selbstbestimmte <strong>und</strong><br />
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