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Einfach Freunde

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150/189<br />

Das Kloster sieht aus wie ein Landhaus in den Bergen: überall Holz, keine<br />

vergitterten Fenster, ein See voller Boote. Ob die Mädels Angelruten verleihen?<br />

Philippe Pozzo di Borgo ist ein besonderer Gast: Normalerweise öffnen<br />

die Nonnen das Haus nur für Frauen. Wie in den Schulen früher: die<br />

Mädchen auf der einen, die Knaben auf der andern Seite. Keine Vermischung!<br />

Aber ein Tetraplegiker, das ist natürlich etwas anderes … Die Männlichkeit<br />

meines Bosses hat durch seinen Unfall einen harten Schlag erlitten,<br />

und ich finde es nicht sehr zartfühlend, ihn daran zu erinnern, dass er sich<br />

nicht mehr nach Lust und Laune vermischen kann. Was mich betrifft, so<br />

bin ich in meiner Funktion als »Hilfskraft« zugelassen. Inzwischen mag ich<br />

das Wort. Ich hatte Zeit, über seinen Sinn nachzudenken: Wie das Hilfsverb<br />

in der Grammatik, hat auch eine Hilfskraft keine Funktion, solange sie<br />

alleine ist. Das Hilfsverb muss mit einem anderen Verb zusammengetan<br />

werden, oder es ist rein gar nichts. Ich habe, zum Beispiel? Was habe ich<br />

denn? Ich habe gegessen. Ich habe gelesen. Ich habe geschlafen. Alles klar.<br />

Ich bin das Hilfsverb, und Monsieur Pozzo ist das Hauptverb. Er ist es, der<br />

isst, der liest, der schläft. Aber ohne mich schafft er das nicht. Was die<br />

Nonnen nicht wissen, ist, dass das Hilfsverb Abdel eine besonders freie<br />

Stellung besitzt in der Grammatik des Lebens. Aber sie werden schon noch<br />

draufkommen.<br />

Man teilt mir ein Zimmer im Erdgeschoss zu, gleich neben meinem Chef –<br />

nein, man wird mich nicht dazu bringen, es Zelle zu nennen. Der Wagen<br />

steht auf dem Parkplatz, ich bin ganz gelassen. Heute Abend heißt mein<br />

Hauptverb »schlafen«. Und ich habe einen Plan: Sobald ich Monsieur<br />

Pozzo in die Heia gebracht habe, werde ich aus dem Fenster steigen und in<br />

die nächste Stadt fahren. In der Zwischenzeit mache ich das Spielchen mit.<br />

Wie immer, wenn ich an einen Ort komme, den ich nicht kenne, beobachte<br />

ich erst mal. In der Kirche stelle ich den Rollstuhl vom Chef neben die<br />

Sitzreihe, dann lehne ich mich an einen Pfeiler in der Nähe und mache ein<br />

Auge zu. Mit dem anderen beobachte ich. Die Seminaristinnen sehen alle

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