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Das Kloster sieht aus wie ein Landhaus in den Bergen: überall Holz, keine<br />
vergitterten Fenster, ein See voller Boote. Ob die Mädels Angelruten verleihen?<br />
Philippe Pozzo di Borgo ist ein besonderer Gast: Normalerweise öffnen<br />
die Nonnen das Haus nur für Frauen. Wie in den Schulen früher: die<br />
Mädchen auf der einen, die Knaben auf der andern Seite. Keine Vermischung!<br />
Aber ein Tetraplegiker, das ist natürlich etwas anderes … Die Männlichkeit<br />
meines Bosses hat durch seinen Unfall einen harten Schlag erlitten,<br />
und ich finde es nicht sehr zartfühlend, ihn daran zu erinnern, dass er sich<br />
nicht mehr nach Lust und Laune vermischen kann. Was mich betrifft, so<br />
bin ich in meiner Funktion als »Hilfskraft« zugelassen. Inzwischen mag ich<br />
das Wort. Ich hatte Zeit, über seinen Sinn nachzudenken: Wie das Hilfsverb<br />
in der Grammatik, hat auch eine Hilfskraft keine Funktion, solange sie<br />
alleine ist. Das Hilfsverb muss mit einem anderen Verb zusammengetan<br />
werden, oder es ist rein gar nichts. Ich habe, zum Beispiel? Was habe ich<br />
denn? Ich habe gegessen. Ich habe gelesen. Ich habe geschlafen. Alles klar.<br />
Ich bin das Hilfsverb, und Monsieur Pozzo ist das Hauptverb. Er ist es, der<br />
isst, der liest, der schläft. Aber ohne mich schafft er das nicht. Was die<br />
Nonnen nicht wissen, ist, dass das Hilfsverb Abdel eine besonders freie<br />
Stellung besitzt in der Grammatik des Lebens. Aber sie werden schon noch<br />
draufkommen.<br />
Man teilt mir ein Zimmer im Erdgeschoss zu, gleich neben meinem Chef –<br />
nein, man wird mich nicht dazu bringen, es Zelle zu nennen. Der Wagen<br />
steht auf dem Parkplatz, ich bin ganz gelassen. Heute Abend heißt mein<br />
Hauptverb »schlafen«. Und ich habe einen Plan: Sobald ich Monsieur<br />
Pozzo in die Heia gebracht habe, werde ich aus dem Fenster steigen und in<br />
die nächste Stadt fahren. In der Zwischenzeit mache ich das Spielchen mit.<br />
Wie immer, wenn ich an einen Ort komme, den ich nicht kenne, beobachte<br />
ich erst mal. In der Kirche stelle ich den Rollstuhl vom Chef neben die<br />
Sitzreihe, dann lehne ich mich an einen Pfeiler in der Nähe und mache ein<br />
Auge zu. Mit dem anderen beobachte ich. Die Seminaristinnen sehen alle