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müssen, damit man mich bis zum richtigen Prozess wieder auf freien Fuß<br />
setzt. Dann wär ich vielleicht untergetaucht, hätte mich bei Kumpels versteckt<br />
oder bei meiner Familie in Algerien. Und hätte damit auf eine interessante,<br />
völlig schmerzfreie Erfahrung verzichtet.<br />
Auch am 9. November liege ich auf meiner Pritsche und schaue fern. Von<br />
Christine Ockrent erfahre ich, dass Europa seit 28 Jahren durch eine<br />
Mauer geteilt ist. Die Nachrichtensendungen drehen sich alle um das eine<br />
große Ereignis: Der Eiserne Vorhang wackelt. Dann zeigen sie Leute, die<br />
Steine aus der Mauer brechen und sich mitten in den Trümmern in die<br />
Arme fallen. Ein alter Mann spielt vor den Graffitis Geige. Ost und West<br />
bildeten bis zu diesem Tag also wirklich zwei völlig undurchlässige Blöcke.<br />
Das war keine Erfindung von Drehbuchautoren aus Hollywood, und wenn<br />
James Bond echt wäre, würde er sich tatsächlich mit Sowjet-Spionen<br />
herumschlagen …<br />
Plötzlich frage ich mich, auf welchem Planeten ich eigentlich gelebt<br />
habe, bevor ich nach Fleury-Mérogis kam. Seit sechs Monaten bin ich in<br />
einer Zelle eingesperrt und entdecke dabei die Welt. Das ist doch wirklich<br />
verrückt. Die Wärter nennen mich den »Touristen«, weil ich alles auf die<br />
leichte Schulter nehme. Als wäre ich hier nur auf der Durchreise.<br />
Meine Zeit ist ohnehin abgelaufen, ich bin schon wieder auf dem<br />
Sprung. Danke, Jungs, ich hab mich super erholt, jetzt kann ich mich<br />
wieder ins Getümmel stürzen. Ob in Berlin, am Trocadéro, in Châtelet-Les<br />
Halles oder im Außenministerium, offenbar herrscht überall das gleiche<br />
Chaos. Und falls ich wieder in Fleury landen sollte … ist das auch kein<br />
Beinbruch.