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»Abdel Yamine, hast du deinen Text nicht auswendig gelernt?«<br />
»Welchen Text?«<br />
»Die Fabel von La Fontaine, die ich dir für heute aufgetragen hatte.«<br />
»Ich hab nur Gabel verstanden.«<br />
»Bravo! Monsieur versteht sich aufs Reimen.«<br />
»Ist mir lieber als Schleimen.«<br />
»Raus mit dir, Sellou …«<br />
Ich ließ mich gern aus dem Unterricht werfen. Diese Strafe, vom Lehrer als<br />
größtmögliche Demütigung gedacht, erlaubte mir schließlich, mich in aller<br />
Ruhe auf Beutezug zu begeben. Wer immer die Pariser Schulen erbaute,<br />
hatte entweder nicht bedacht, dass dort eines Tages ein böser kleiner Abdel<br />
eindringen würde, oder er hatte beschlossen, ihm die Arbeit zu erleichtern:<br />
Die Mantelhaken hängen draußen vor der Klasse, im Flur! Und was steckt<br />
in den Manteltaschen? Ein oder zwei Francs, an guten Tagen sogar fünf, ein<br />
Yo-Yo, Kekse, Bonbons! Es konnte mir nichts Besseres passieren, als vor<br />
die Tür gesetzt zu werden …<br />
Ich stellte mir vor, wie die anderen Kinder abends heulend nach Hause<br />
kamen.<br />
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, Mama, aber mein Franc-<br />
Stück ist verschwunden …«<br />
»Du warst also wieder einmal schlampig. Von mir bekommst du kein<br />
Geld mehr!«<br />
Von wegen, beim nächsten Mal gibt’s doch wieder welches, und die<br />
nächste Beute des kleinen Abdels fällt genauso üppig aus …<br />
Auch an meinem zehnten Geburtstag wurde ich aus dem Unterricht geworfen,<br />
quasi als Geschenk des Lehrers, und entdeckte im Flur ein Stückchen<br />
Pappe, das Gold wert war. Gut versteckt im Dufflecoat eines Mädchens,<br />
unter einem rosa-weißen Papiertaschentuch. Es fühlte sich dicker an als ein<br />
Fahrschein, war größer als eine Kinokarte – was konnte das sein? Ich zog<br />
die Hand aus der Tasche. Ein Foto. Ein Foto der Mantelbesitzerin, aber