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Einfach Freunde

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24/189<br />

»Abdel Yamine, hast du deinen Text nicht auswendig gelernt?«<br />

»Welchen Text?«<br />

»Die Fabel von La Fontaine, die ich dir für heute aufgetragen hatte.«<br />

»Ich hab nur Gabel verstanden.«<br />

»Bravo! Monsieur versteht sich aufs Reimen.«<br />

»Ist mir lieber als Schleimen.«<br />

»Raus mit dir, Sellou …«<br />

Ich ließ mich gern aus dem Unterricht werfen. Diese Strafe, vom Lehrer als<br />

größtmögliche Demütigung gedacht, erlaubte mir schließlich, mich in aller<br />

Ruhe auf Beutezug zu begeben. Wer immer die Pariser Schulen erbaute,<br />

hatte entweder nicht bedacht, dass dort eines Tages ein böser kleiner Abdel<br />

eindringen würde, oder er hatte beschlossen, ihm die Arbeit zu erleichtern:<br />

Die Mantelhaken hängen draußen vor der Klasse, im Flur! Und was steckt<br />

in den Manteltaschen? Ein oder zwei Francs, an guten Tagen sogar fünf, ein<br />

Yo-Yo, Kekse, Bonbons! Es konnte mir nichts Besseres passieren, als vor<br />

die Tür gesetzt zu werden …<br />

Ich stellte mir vor, wie die anderen Kinder abends heulend nach Hause<br />

kamen.<br />

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, Mama, aber mein Franc-<br />

Stück ist verschwunden …«<br />

»Du warst also wieder einmal schlampig. Von mir bekommst du kein<br />

Geld mehr!«<br />

Von wegen, beim nächsten Mal gibt’s doch wieder welches, und die<br />

nächste Beute des kleinen Abdels fällt genauso üppig aus …<br />

Auch an meinem zehnten Geburtstag wurde ich aus dem Unterricht geworfen,<br />

quasi als Geschenk des Lehrers, und entdeckte im Flur ein Stückchen<br />

Pappe, das Gold wert war. Gut versteckt im Dufflecoat eines Mädchens,<br />

unter einem rosa-weißen Papiertaschentuch. Es fühlte sich dicker an als ein<br />

Fahrschein, war größer als eine Kinokarte – was konnte das sein? Ich zog<br />

die Hand aus der Tasche. Ein Foto. Ein Foto der Mantelbesitzerin, aber

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