HOLLY-JANE RAHLENS
HOLLY-JANE RAHLENS
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Ich wollte meine Zeit nicht mit Fritzi und ihren Eltern verbringen. Ihre Sind-wir-<br />
nicht-eine-glückliche-Familie-Gesichter machten mich krank. Ich wollte auch nicht auf<br />
einer Couch im Wohnzimmer meiner Oma schlafen. Ich wollte nach New York. Oder<br />
allein in Berlin bleiben, mit Philipp. Musste ich jetzt wirklich mit meiner Mutter auf<br />
Lesereise gehen? Wie sollte ich das überleben? Wie sollte ich es überstehen, drei<br />
ganze Wochen mit Dr. Mom zusammengekettet zu sein?<br />
»Renée, sei doch mal ein bisschen offen. Lass dich doch überraschen«, sagte<br />
meine Mutter und nahm sich eine zweite Portion Bohnen. »Du kriegst was von der<br />
Welt zu sehen.«<br />
»Die Welt. Na toll. Schwedt an der Oder. Das war schon immer mein Traum.«<br />
»Okay, es sind auch ein paar Buchhandlungen in Kleinstädten dabei. Aber<br />
einige Großstädte sind auch dabei. Mannheim, Leipzig, München, Hamburg.«<br />
»Mannheim!«, sagte ich und rollte mit den Augen.<br />
»Und die Ostsee, Renée. Der Darß. Es wird dir gefallen. Und eine ganze<br />
Woche in den Alpen, auf Schloss Koppenbach.«<br />
Meine Mutter sprach oft von Schloss Koppenbach. Sie hatte mir mal einen<br />
Zeitungsartikel gezeigt. Ein alter Schulfreund von ihr aus Hannover, Niels Riethmann,<br />
ein intellektueller Typ mit Nickelbrille, hatte den ganzen Schlosskomplex von einem<br />
bayerischen Onkel geerbt. Innerhalb von zwei Jahren hatte er ihn in ein luxuriöses<br />
Wellnesshotel mit gehobenem Kulturprogramm verwandelt. Es gab klassische<br />
Konzerte, Jazzsessions und literarische Abende. Medizinische Koryphäen hielten<br />
Vorträge über die Heilkraft von Pflanzen.<br />
»Klingt echt aufregend«, sagte ich.<br />
Dann zog ich alle Register. Wenn ich zu Hause in Berlin bleiben dürfte,<br />
versprach ich, sie alle zwei Stunden anzurufen. Versprach, mein Handy immer<br />
angeschaltet zu lassen. Schwor, dass kein einziger Junge jemals auch nur den<br />
kleinen Zeh in die Wohnung setzen würde. (Ob ich das Versprechen halten konnte,<br />
wusste ich nicht, aber darüber konnte ich mir ja später einen Kopf machen.) Ich<br />
versprach, mir jeden Tag drei ausgewogene Mahlzeiten zuzubereiten, dreimal mit<br />
Obst und zweimal mit Gemüse dabei. Ich versprach sogar, ihr einen neuen<br />
Frotteebademantel zu schenken.<br />
Doch sie rollte nur mit den Augen und seufzte.<br />
Und dann, als das Essen vorbei war. Das allerschlimmste Horrorszenario.<br />
»Bitte!«, bettelte ich.