HOLLY-JANE RAHLENS
HOLLY-JANE RAHLENS
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»Interessant«, sagte eine Stimme. Wir sahen hoch. Es war die Kellnerin. Wie<br />
lange stand sie da schon?<br />
Wir lachten und bestellten.<br />
Als die Kellnerin wieder weg war, meine Mutter zog einen Stadtplan von<br />
Halberstadt aus der Tasche. »Westendorf«, sagte sie suchend und nahm die Brille<br />
ab, um besser sehen zu können. »Das Haus der Nussbaums lag an einem Fußweg<br />
namens Plantage. Er führte mitten durch einen Park hinter der Straße Westendorf,<br />
die nur ein paar Minuten von der Mikwe entfernt war.«<br />
Ich wusste, was eine Mikwe war – das rituelle Bad, zu dem jüdisch-orthodoxe<br />
Frauen sieben Tage nach dem Ende ihrer Menstruation gehen. Offensichtlich wollte<br />
Gott, dass sie sich vor dem ersten Sex nach ihren Tagen gründlich reinigten.<br />
»Wusstest du, dass Daddy mit Grandma Myrna hier in Halberstadt war?«, sagte<br />
meine Mutter und suchte mit dem Finger auf der Karte immer noch nach diesem<br />
Westendorf. »Ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer. Sie wollten Bellas Haus<br />
finden.«<br />
»Wirklich?«<br />
»Du warst damals drei oder vier. Und du warst krank, deshalb bin ich mit dir zu<br />
Hause geblieben. Aber dein Vater und Myrna sind gefahren. Myrna war ganz erpicht<br />
darauf. Sie sagte, sie hätte ihre Schwiegermutter gern gehabt, und wollte endlich<br />
sehen, wo sie aufgewachsen war. Und Daddy, dieser sentimentale Kerl, wollte<br />
natürlich so gern ... sehen, wo ...«<br />
Die Stimme meiner Mutter brach ab. Sie biss auf ihre Unterlippe und versuchte<br />
die Tränen zurückzuhalten. Oh nee! Das fehlte mir gerade noch. Ich griff nach<br />
meinem Wasserglas. Ihre Tränen fühlte ich jetzt in mir, in meinem Hals. Ich spülte<br />
den Klumpen mit Wasser hinunter. Ein Schluck, noch ein Schluck. Noch einer. Meine<br />
Mutter zog ein Tempo aus ihrer Tasche (sie schleppte das Zeug immer noch<br />
tonnenweise mit sich herum – für alle Fälle) und trocknete sich die Augen. Ich<br />
brauchte kein Taschentuch.<br />
»Daddy erzählte, wie Bella an dem alten Haus gehangen hatte«, sagte meine<br />
Mutter und schnäuzte sich, »dass sie oft von dem Garten sprach. Sie erinnerte sich<br />
an eine riesige Kastanie. Und an den Geruch des Flieders vor ihrem Fenster. Daddy<br />
sagte, sie hätte immer Fliederparfüm getragen. Das war ihr Lieblingsduft. Und seiner<br />
auch.« Meine Mutter sah mich an, ihre Augen waren immer noch feucht. »Weißt du,<br />
bevor du geboren warst, waren wir einmal im KaDeWe ein Geschenk kaufen, ein