HOLLY-JANE RAHLENS
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Ich antwortete nicht. Sah nur ihre Hände an. Ihre Nagelhaut war rissig und die<br />
Nägel kurz geschnitten. Zu kurz. Bestimmt kaute sie die Nägel und feilte sie ab,<br />
damit es keiner merkte. Außerdem waren ihre Fingerspitzen gelb verfärbt. Entweder<br />
hatte sie Gelbsucht oder es kam vom Nikotin. Eine Schulpsychologin, die Nägel kaut<br />
und raucht. Tolles Vorbild.<br />
»Wenn jemand, den man liebt, fort ist, fühlen wir Schmerz«, sagte Frau<br />
Kirschner und nahm einen weiteren Zug. »Trauern wiederum bedeutet, dem<br />
Schmerz Ausdruck zu verleihen. Ihn rauszulassen. Ihn zu akzeptieren. Sich mit ihm<br />
zu versöhnen. Die Wunde heilen zu lassen.«<br />
Ich sagte nichts. Ich hatte mich an mein Schweigen gewöhnt. Die Menschen um<br />
mich herum ebenfalls.<br />
»Weinen ist eine Art zu trauern«, sagte sie. »Eine der besten. Aber es gibt viele<br />
andere Möglichkeiten. Manche Menschen pflanzen Bäume für ihre Lieben, die nun<br />
tot sind. Andere malen Bilder.« Dann schlug sie vor, ich sollte ein paar Zeilen an<br />
meinen Vater auf einen biologisch abbaubaren, mit Treibgas gefüllten Ballon<br />
schreiben und ihn zum Himmel aufsteigen lassen.<br />
»In Amerika macht man das«, sagte sie.<br />
Superidee: Sonntagfrüh, ich, oben auf dem windigen Teufelsberg mit den<br />
Drachenjunkies. »Hey Dad«, würde ich Richtung Himmel rufen, »hörst du mich? Tut<br />
mir Leid, dass ich mich nicht von dir verabschieden konnte. Aber hier kommt ein<br />
Ballon für dich geflogen, der ist hundert Prozent biologisch abbaubar und es steht<br />
was für dich drauf.«<br />
Thanks, but no thanks.<br />
Ich stand auf. »Sind wir jetzt fertig, Frau Kirschner? Kann ich jetzt gehen?«<br />
Frau Kirschner zog an ihrer Zigarette, dann nickte sie. Und ich ging.<br />
Gisela, Fritzis Mutter, schenkte mir ein Tagebuch. »Da könntest du alles<br />
reinschreiben«, sagte sie. »Ich weiß, dass du gern schreibst.«<br />
»Ich hab genug Hausaufgaben«, sagte ich und beließ es dabei. Aber das in<br />
Hanfleinen gebundene Buch nahm ich trotzdem gern mit. So viel schönes blankes<br />
Papier sollte nicht in irgendeiner fremden Schublade landen.<br />
Herr Trockenbrodt, der Schwimmtrainer, war der Einzige, der mir einen wirklich<br />
vernünftigen Rat gab.<br />
»Schwimm«, sagte er. »Nur das will ich von dir.«<br />
»Schwimmen?«