Ausgabe 3/2010 - Deutsche Olympische Gesellschaft
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Die Sportwissenschaft liefert Diagnosen und Statistiken, Messund<br />
Testverfahren, sichert sich lukrative Forschungsaufträge<br />
auf dem Megamarkt Gesundheit - ist damit Teil des Problems.<br />
Der organisierte Sport bringt sich als Resonanz-Verstärker mit<br />
Slogans und Kampagnen nachhaltig in Stellung. Steigende<br />
Gesundheitskosten legitimieren aufwendige Kampagnen und<br />
millionenschwere Aktionspläne.<br />
Der altgediente Sportpädagoge Professor Edgar Beckers<br />
(Ruhr-Universität Bochum) stellt nicht die bewegungsfaulen<br />
Kinder an den Pranger, sondern die <strong>Gesellschaft</strong>. "Jugend ist<br />
keineswegs so schlecht und schwach, wie auch in der Sportwissenschaft<br />
häufig behauptet wird. Reizarmut und Reizüberflutung<br />
verstärken die Suche nach Abenteuer und Kick." Spaß<br />
statt Training ist angesagt. Viele Sportvereine wissen auf den<br />
veränderten Lebensstil keine Antworten.<br />
Deutschland hat erheblichen Modernisierungsdruck im Kinder-<br />
und Schulsport. "Hertha-Niveau in der Bundesliga, das ist<br />
unser Niveau im Elementarbereich", tadelt Professor Werner<br />
Schmidt (Universität Duisburg-Essen) und unterlegt diese<br />
These mit Daten. Er fordert Bewegungskindergärten ab drei<br />
Jahren und qualifizierte Ausbildung der Betreuer. "In Skandinavien<br />
ist Kindergärtnerin ein Studienfach." Bewegte Grundschule<br />
flächendeckend, grundsätzliche Abkehr von früher,<br />
sportspezifischer Spezialisierung, dafür vielseitige Grundausbildung:<br />
Die Schweiz sammelt gute Erfahrungen damit.<br />
"In Skandinavien ist es Kraft Kindersportgesetz verboten, bis<br />
zwölf Jahre reguläre Wettkämpfe anzubieten." Er vermisst<br />
bisher auch Basislehrpläne für alle Sportfachverbände (Koordi-<br />
30<br />
nation, Bewegungsvielfalt, kleine einfach erlernbare Spiele).<br />
Dieses Umsteuern wäre relativ kostenneutral. Der Mitherausgeber<br />
des ersten und zweiten "<strong>Deutsche</strong>n Kinder- und<br />
Jugendberichtes" sieht in der Misere des Schulsports ein<br />
Grundübel - auch für die Talentpflege. Kinder mit fünf Stunden<br />
Sitzunterricht verlieren 40 Prozent ihrer Aufmerksamkeit<br />
in der letzten Stunde. Kinder mit zwei großen Bewegungspausen<br />
(je 30 Minuten) sind zwölf Prozent konzentrierter. Ein<br />
Schulalltag, der bewegt, sorgt für 52 Prozent mehr Konzentration.<br />
Derzeit werden von drei höchstens 2,2 Stunden Sport in<br />
Grundschulen gehalten - meist fachfremd.<br />
Im Elementarbereich betreut eine Kindergärtnerin 24 Sprösslinge.<br />
Lediglich für 11,2 Prozent gibt es Kindertagesplätze. In<br />
Skandinavien setzt Ganztagsbetreuung im zweiten Lebensjahr<br />
ein. Hierzulande werden viele Kinder erst mit sechs Jahren<br />
angesprochen. Im Primarbereich (Grundschule) arbeiten 80<br />
Prozent nicht ausgebildete Sportlehrer. Das Durchschnittsalter<br />
der Pädagogen heute: 55 Jahre.<br />
Professor Klaus Bös (Uni Karlsruhe), der das Motorik-Modul<br />
(Testreihe) entwickelt hat und damit erschreckende Defizite<br />
im Kindes- und Jugendalter nachweist, unterstreicht: "Wir<br />
brauchen den Körper, weil wir mit dem Körper unsere Persönlichkeit<br />
ausdrücken. Der Schlüssel zur persönlichen Leistungsfähigkeit."<br />
Bös löst sich vom engen Sportbegriff und rückt<br />
qualifizierte Bewegung und Beweglichkeit in den Vordergrund.<br />
Es geht um Vielfalt und Könnenserfahrung. "Kinder<br />
brauchen Bewegung, aber sie brauchen sicher auch Sport<br />
(tägliche Bewegungszeit im Unterricht)." Laufen und Springen<br />
bilden die Basis für Leistungsfähigkeit: "Diese grundmotorischenFertigkeiten<br />
sind<br />
schlechter geworden."<br />
Auch weil<br />
klassische Bewegungsformen<br />
schwieriger zu<br />
erlernen sind.<br />
"Trendsportarten<br />
lernen sie viel,<br />
viel, viel schneller."<br />
Die Ganztagsschule<br />
begreift Bös als<br />
Chance für den<br />
Sport - auch für<br />
die Talentförderung.<br />
Doch muss<br />
die Kooperation<br />
zwischen Schule<br />
und Verein nachhaltig<br />
und neu<br />
begründet werden.