Beschäftigung mit Musik â ein Leben lang / Fare musica â tutta la vita
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Christoph Khittl<br />
73<br />
All dies führt musikanthropologisches Denken zu der Annahme <strong>ein</strong>es musikfähigen,<br />
entwickelbaren, ausbildungsfähigen Potentials in der körperlich-leiblichen An<strong>la</strong>ge des<br />
Menschen, das selbst zwar nichts <strong>mit</strong> tatsächlich erklingender <strong>Musik</strong> zu tun hat, das<br />
aber die Basis und Voraussetzung für musikalische Betätigung und für musikbezogene<br />
Bildungsprozesse darstellt. Auf dieser Grund<strong>la</strong>ge und an dieser Primärschicht des <strong>Musik</strong>alischen<br />
setzen Prozesse musikalischer Bildung und gezieltes <strong>Musik</strong>lernen an. Diese<br />
primären Potentiale sind per se ausbildungsfähig, bildbar und entwicklungsfähig<br />
im Hinblick auf <strong>Musik</strong>. Je nach Art und Intensität der musikalischen Bildung ergeben<br />
sich aus diesen Potentialen musikalische Fähigkeiten sowie die jeweils kulturspezifischen<br />
Ausformungen des <strong>Musik</strong>alischen. Da C<strong>la</strong>ude Lévi-Strauss wie auch andere Autoren<br />
18 hier etwas vage bleiben und sich in der Charakterisierung des physiologischen<br />
Rasters ebenso allgem<strong>ein</strong> äußern wie in den Ausführungen zur Leiblichkeit als Ort des<br />
Erwerbs, Speicherns und Abberufens von Bedeutsamem, sollen in <strong>ein</strong>em nächsten<br />
Schritt diese physiologisch-körperlich-leiblichen Potentiale des <strong>Musik</strong>alischen, die hier<br />
dem ‘Musica humana’-Begriff subsumiert werden, etwas näher betrachtet und konkretisiert<br />
werden. Dazu übernehme ich <strong>ein</strong> Modell ästhetischer Bildung, das von den<br />
Sinnen ausgeht und den Sinnen in Aktion <strong>ein</strong>en eigenständigen Erkenntniswert zugesteht,<br />
was R. zur Lippe im Begriff ‘Sinnenbewußts<strong>ein</strong>’ 19 pointiert zusammenfaßt. Dieses<br />
Sinnenbewußts<strong>ein</strong> wäre der Ort, wo Prozesse musikalischer Tätigkeit und musikalischer<br />
Bildung ansetzten, wo innere Latenzen zu real erklingenden Phänomenen<br />
werden und wo das Wahrgenommene sinnlich (als <strong>Musik</strong>) rezipiert wird.<br />
3. ‘Aisthesis’-Potentiale und musikalische (Selbst-)Bildung<br />
Die Tradition der ästhetischen Bildung bzw. ästhetischen Erziehung leitet sich u.<br />
a. von Aristoteles und s<strong>ein</strong>er Schrift De Anima, von Alexander Gottlieb Baumgartens<br />
Aesthetica (1750-1755), oder Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische<br />
Erziehung des Menschen (1795) her. Im 20. und 21. Jahrhundert werden auf diesen<br />
Grund<strong>la</strong>gen weiterführend interdisziplinäre Ansätze für verschiedene Bildungsbereiche<br />
etwa von Hartmut von Hentig, Rudolf zur Lippe, Gunter Otto, Horst Rumpf, Wolfgang<br />
Roscher u. a. entwickelt, die neben speziellen Kunstdidaktiken auch <strong>ein</strong>e sinnennahe<br />
ästhetische Lernkultur entwickeln. 20<br />
Ästhetische Bildung bloß auf die Ausbildung und Kultivierung der Wahrnehmung und<br />
Wahrnehmungsfähigkeit zu beziehen, wäre <strong>ein</strong>e Verkürzung, die das Wahrnehmen<br />
zu <strong>ein</strong>em r<strong>ein</strong> passiven, rezeptiven Vorgang degradierte. Helmuth Plessner betont in<br />
s<strong>ein</strong>er Anthropologie der Sinne (1923) die «rezeptiv-produktive Zweiseitigkeit» der<br />
Wahrnehmung. 21 Das Wahrnehmen ist so<strong>mit</strong> nicht bloß rezeptiv, sondern immer zugleich<br />
auch <strong>ein</strong> wirklichkeitsherstellender, selbsttätig-autopoietischer Akt unserer Sin-<br />
18 Vgl. etwa die Ausführungen Pierre Bourdiues, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt<br />
a. M. 1987, S. 127-9. Vgl. auch die beiden oben genannten Studien von Wolfgang Suppan (Der musizierende<br />
Mensch und Musica humana a. a.O.).<br />
19 Rudolf zur Lippe, Sinnenbewußts<strong>ein</strong>. Grundlegung <strong>ein</strong>er anthropologischen Ästhetik, Rowohlt, R<strong>ein</strong>bek 1987.<br />
20 Christoph Khittl, „Die <strong>Musik</strong> fängt“, S. 90-2.<br />
21 Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in Gesammelte Schriften, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1980, Bd. 3, S. 350.