„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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eine Basis für nationales Selbstbewußtsein,<br />
von dem aus es erst möglich<br />
war, eine über <strong>die</strong> Nation hinausgehende<br />
Verständigungs- und Friedenspolitik<br />
mit den anderen europäischen<br />
Nationen zu beginnen.<br />
Andererseits – oder deshalb? - war er<br />
eben auch ein Sozialist, der den wildwüchsigen<br />
Kapitalismus unter eine<br />
politische, demokratische und planende<br />
Kontrolle bringen wollte, um<br />
dessen ungerechte, klassenspalterischen<br />
Folgen und Auswüchse<br />
zu reduzieren oder rückgängig zu machen.<br />
Deshalb war er auch ein Anhänger<br />
der Marx'schen Theorie, <strong>die</strong> er<br />
aber vor allem als eine wissenschaftliche,<br />
dialektische Methode zur Analyse<br />
der gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />
verstand. Gegenüber der orthodoxmarxistischen<br />
Klassenkampf- und Revolutionsdoktrin<br />
war er jedoch skeptisch<br />
bis ablehnend eingestellt. Wie<br />
konnte man eine Strategie der Aufspaltung<br />
des Volkes zum Mittel seiner<br />
Versöhnung machen ? Welche Folgen<br />
könnte und würde eine sozialistische<br />
Revolution haben ? Wäre das nicht<br />
ein Verrat an den gewachsenen kulturellen<br />
Strukturen und Ordnungen des<br />
Volkes, der Nation, um deren Bewahrung<br />
und Weiterentwicklung es ihm<br />
doch ebenfalls ging ? Was konnte<br />
nach den bisherigen Erfahrungen mit<br />
Revolutionen Gutes aus ihnen entstehen<br />
? <strong>Reichwein</strong> setzte dagegen auf<br />
<strong>die</strong> Kultur des Volkes und der Nation<br />
und deshalb auch auf Bildung und Erziehung<br />
als <strong>die</strong> vermittelnden Elemente,<br />
<strong>die</strong> nach seiner Auffassung eine<br />
Überwindung der gesellschaftlichen<br />
Gegensätze und Konflikte möglich<br />
machen konnten. Insofern war<br />
<strong>Reichwein</strong> ein sozialistischer Reformist,<br />
ein „Revisionist“, wie das <strong>die</strong> orthodoxen<br />
Marxisten, besonders <strong>die</strong><br />
Kommunisten damals nannten, eben<br />
ein Sozialdemokrat, und zwar schon<br />
bevor er der SPD beitrat, und zwar<br />
eben auch ein patriotischer, national<br />
gesinnter. Die Bewahrung und Weiterentwicklung<br />
der nationalen Volkskultur<br />
war ihm wichtiger, als ein Umsturz,<br />
eine Revolution im Namen einer<br />
reinen Lehre, <strong>die</strong> ihm fragwürdig,<br />
nicht mehr up to date erschien.<br />
reichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
32<br />
Wie und warum war es <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>,<br />
wenn er sich noch im Oktober<br />
1933 als „nationaler Sozialist“ verstand,<br />
dann doch möglich, in den subversiven<br />
Widerstand gegen den Nationalsozialismus<br />
Hitlers zu gehen ?<br />
Obwohl er dem Hitler-Faschismus<br />
schon Ende der 20er Jahre ablehnend<br />
gegenüberstand, hat er dafür doch<br />
einige Jahre gebraucht. Da war anscheinend<br />
vorher noch einiges zu klären.<br />
Was konnte er auch in der Hitler-<br />
Diktatur gegen sie tun, als Dorfschullehrer<br />
in Tiefensee ? Und wer weiß,<br />
ob es ohne seine vielen Kontakte und<br />
Freundschaften aus den 1920er Jahren<br />
und ohne den Umzug von Tiefensee<br />
nach Berlin so weit gekommen<br />
wäre. Man sollte im historischen<br />
Rückblick nicht den Fehler begehen,<br />
etwas als zwangsläufig zu betrachten,<br />
was - jedenfalls auf der individuellen,<br />
subjektiven Ebene - nicht zwangsläufig<br />
war.<br />
4.<br />
Es gibt nur ganz wenige schriftliche,<br />
briefliche und andere Dokumente von<br />
<strong>Reichwein</strong>, <strong>die</strong> hier weiterhelfen und<br />
etwas Aufschluss geben können. Eine<br />
Quelle ist der Brief an Ernst Robert<br />
Curtius vom 28.11.1931, eine andere<br />
das sog. „Prerower Protokoll“ vom<br />
September 1932, eine weitere der<br />
Brief an Bettina Israel vom 4.3.1933,<br />
<strong>die</strong> vierte sind <strong>die</strong> „Bemerkungen zu<br />
einer Selbstdarstellung“ vom Juni<br />
1933 und <strong>die</strong> fünfte jener ominöse<br />
Brief an Frl. Walther, eine frühere<br />
Studentin, vom Oktober 1933. Danach<br />
gibt es praktisch nichts mehr von ihm<br />
zu <strong>die</strong>sem Problem. Aus <strong>die</strong>sen Quellen<br />
kann man schließen, dass <strong>Reichwein</strong><br />
ein Gegner des Hitler'schen Nationalsozialismus<br />
war, besonders der<br />
völkischen Blut- und Bodenideologie<br />
und der sozialdarwinistischen Rassentheorie,<br />
welche seinen theoretischen<br />
Kern ausmachen, und zwar aus humanitären<br />
und auch religiösen, christlichen<br />
Gründen, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Basis<br />
seines freiheitlichen Sozialismus bildeten.<br />
Deshalb setzte er zunächst darauf,<br />
dass der linkere, sozialistische<br />
Flügel der NSDAP mit den Brüdern<br />
Strasser gegen den rechteren Hitler-<br />
flügel in Stellung gebracht werden<br />
könne und <strong>die</strong>sen überwinden und<br />
ausschalten könnte (Prerower-<br />
Protokoll), eine Hoffnung, <strong>die</strong> sich im<br />
Winter 1932/33 zerschlug. Nach der<br />
Machtergreifung des Hitlerflügels der<br />
NSDAP und nach <strong>Reichwein</strong>s Beurlaubung<br />
aus der Pädagogischen Akademie<br />
Halle ergriff er zunächst <strong>die</strong><br />
Chance einer Emigration in <strong>die</strong> Türkei,<br />
wo ihm <strong>die</strong> Notgemeinschaft der<br />
Deutschen Wissenschaft eine Professur<br />
in Istanbul in Aussicht stellte, eine<br />
Sache, <strong>die</strong> er anscheinend schon<br />
ziemlich verdeckt und diskret betrieb.<br />
In <strong>die</strong>ser Situation nimmt sich seine<br />
Bemerkung in dem Brief an Bettina Israel<br />
vom März 1933, sie möge ihm<br />
nichts Politisches mehr schreiben,<br />
denn man befinde sich im Jahr „1833<br />
!“, etwas merkwürdig aus. Sie macht<br />
einerseits deutlich: <strong>Reichwein</strong> wusste,<br />
dass <strong>die</strong> Meinungs- und <strong>Gedanken</strong>freiheit<br />
und auch das Postgeheimnis<br />
bereits ausgeschaltet waren und dass<br />
nunmehr äußerste Vorsicht geboten<br />
war, wenn man nicht in <strong>die</strong> Mühlen<br />
des neuen Polizei- und Unrechtsstaates<br />
geraten wollte. Andererseits fragt<br />
man sich, ob <strong>die</strong> Situation Deutschlands<br />
im Frühjahr 1933 wirklich mit<br />
der des „Deutschen Bundes“ um 1833<br />
unter der Metternich-Ägide mit der<br />
damaligen Verfolgung der Burschenschaften<br />
und Demokraten vergleichbar<br />
war, ob das nicht eine bedenkliche<br />
Fehleinschätzung und Verharmlosung<br />
darstellt. Hat <strong>Reichwein</strong> nicht<br />
bemerkt, mit welcher beispiellosen<br />
Konsequenz und Wucht das erste Hitler-Kabinett<br />
<strong>die</strong> neu eroberte Macht<br />
und Staatsgewalt des Nationalsozialismus<br />
von Anfang an nicht nur polizeilich,<br />
sondern auch politisch durchgesetzt<br />
hat, so dass schon im Sommer<br />
1933 alle aus der Weimarer Republik<br />
stammenden Gegenkräfte niedergewalzt<br />
waren, aufgeben mussten und<br />
ausgeschaltet bzw. „gleichgeschaltet“<br />
wurden ? Eine offene Frage.<br />
Zunächst standen für ihn, nach der<br />
Beurlaubung und angesichts einer ungewissen<br />
Zukunft, private Probleme<br />
im Vordergrund. Nach der Heirat und<br />
der Hochzeitsreise, in dem Übergangsquartier<br />
bei den Schwiegerel-