„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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Zurück zu Stefan George und dem<br />
George-Kreis. Bei der Lektüre des Buches<br />
von Raulffs sind mir vor allem<br />
drei Dinge aufgefallen:<br />
Das eine ist, dass <strong>die</strong> homoerotische<br />
bzw. homosexuelle Komponente des<br />
George-Kreises, <strong>die</strong> natürlich von Stefan<br />
George selber ausging, in dem<br />
Buch von Ulrich Raulff eigentümlich<br />
unterbelichtet bleibt. So wie man im<br />
George-Kreis damit umgegangen ist –<br />
man wusste davon, aber man redete<br />
nicht darüber - , so geht auch Ulrich<br />
Raulff damit um. Er erwartet offenbar,<br />
dass auch der heutige Leser seines<br />
Buches, ein halbes Jahrhundert<br />
später, darüber Bescheid weiß und<br />
man nicht darüber schreiben muss. In<br />
dem ganzen dicken Buch erfährt „der<br />
geneigte Leser“ nicht, wer von den<br />
zahlreichen Mitgliedern, Anhängern<br />
und Sympathisanten Georges und des<br />
George-Kreises nun homosexuell war<br />
oder nicht, <strong>die</strong> Bisexuellen nicht zu<br />
erwähnen. Nur in einer Fußnote auf S.<br />
443 erfährt man erstaunt, dass auch<br />
C.H. Becker und E.R. Curtius in B.U.<br />
Hegemöllers Lexikon prominenter<br />
deutscher Homosexueller als solche<br />
geführt werden. Es ist aber gerade<br />
<strong>die</strong>se Komponente, <strong>die</strong> noch bei dem<br />
Skandal um <strong>die</strong> pädophilen bzw. homosexuellen<br />
Übergriffe und Mißbrauchsfälle<br />
an der Odenwaldschule<br />
im Jahr 2009/10 eine wichtige Rolle<br />
gespielt hat, an deren Entstehung Anfang<br />
der 1970er Jahre auch ein paar<br />
Personen beteiligt waren, <strong>die</strong> man als<br />
„Georgeaner“ betrachten kann, nämlich<br />
Hellmut Becker und Hartmut von<br />
Hentig. Insofern ist das Buch von<br />
Raulff über das Nachleben des George-Kreises<br />
zur rechten Zeit erschienen<br />
und durchaus aktuell. Raulff spricht in<br />
<strong>die</strong>sem Zusammenhang nebenbei und<br />
ziemlich salopp von der „griechischen<br />
Chiffrierung“ und dem „Hellas-Code“,<br />
der im George-Kreis üblich war und<br />
dort vertreten wurde. (S. 365) Dies ist<br />
aber genau <strong>die</strong> gleiche Chiffre, der<br />
gleiche Code, den auch Hartmut von<br />
Hentig und sein Lieblingsschüler Gerold<br />
Becker, der von 1972 bis 1985<br />
Leiter der Odenwaldschule war, verwendet<br />
und gesprochen haben.<br />
reichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
46<br />
Das zweite ist, dass es im George-<br />
Kreis, der ja weitestgehend aus jungen,<br />
aufstrebenden oder schon erfolgreichen<br />
Männern aus dem deutschen<br />
„Bildungsbürgertum“ und dem<br />
Adel bestand (Frauen waren ein kleine<br />
Minderheit), nach dem Tod „des<br />
Meisters“ im Dezember 1933 während<br />
der Nazi-Zeit genau <strong>die</strong> gleichen<br />
politischen Auseinandersetzungen<br />
und Konflikte gab wie in der übrigen<br />
deutschen Bevölkerung, wenn auch<br />
mit anderen quantitativen Verhältnissen.<br />
Das lag nicht zuletzt daran, dass<br />
sich „der Meister“ zu der heraufziehenden<br />
nationalsozialistischen „Hitlerbewegung“<br />
nie eindeutig geäußert<br />
hat, <strong>die</strong> natürlich mit seinem „geheimen<br />
Deutschland (Reich, Staat)“ der<br />
Dichter und Denker nichts zu tun hatte.<br />
Es gab offenbar im George-Kreis<br />
von Anfang an Hitler- und Nazi-<br />
Gegner, meistens natürlich jüdischer<br />
Herkunft, <strong>die</strong> auch zum großen Teil<br />
emigrierten, es gab auch <strong>die</strong> Sympathisanten<br />
und Anhänger der „neuen<br />
Bewegung“, <strong>die</strong> natürlich im Lande<br />
blieben und zum Teil auch Karriere<br />
machten, zu denen anfangs auch, wie<br />
man weiß, <strong>die</strong> drei Stauffenberg-<br />
Brüder und ein paar andere gehörten,<br />
und es gab ein breites, graues Spektrum<br />
von Unentschiedenen und<br />
Schwankenden, <strong>die</strong> sich irgendwie mit<br />
dem neuen System arrangierten oder<br />
später doch emigrierten. Das alles<br />
hat George, der ja nicht älter als 65<br />
Jahre wurde, in seinem Umkreis toleriert.<br />
Auffallend ist auch, dass man sich in<br />
<strong>die</strong>sem bildungsbürgerlichen Milieu,<br />
wenn man gut miteinander bekannt<br />
oder befreundet war, nicht bei den<br />
Nazi-Machthabern denunzierte, sondern<br />
eher den Kontakt und <strong>die</strong> Beziehungen<br />
abbrach und beendete. Nach<br />
der Niederlage und dem Zusammenbruch<br />
des NS-Systems fing dann <strong>die</strong><br />
Auseinandersetzung um <strong>die</strong> richtige<br />
Interpretation der Botschaft „des<br />
Meisters“ von neuem an, zumal er<br />
und sein Kreis mit ihren elitären und<br />
autoritären Ansichten nun unter dem<br />
Verdacht des Präfaschismus standen.<br />
Als Drittes ist mir aufgefallen, dass<br />
sich in den 1920er Jahren der George-<br />
Kreis und der Kreis gebildeter und<br />
aufstrebender junger Männer, den<br />
C.H. Becker in seinem Ministerium<br />
und durch seine Berufungspolitik an<br />
den deutschen Universitäten um sich<br />
gesammelt hat, <strong>die</strong> sogenannten „Beckerjungens“,<br />
auf eigentümliche Weise<br />
überschnitten und vermischt haben.<br />
Zu <strong>die</strong>sen Becker-Jungens gehörte<br />
ja auch <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>. Es gab einige<br />
unter <strong>die</strong>sen jungen Männern,<br />
<strong>die</strong> sowohl zu dem einen wie zu dem<br />
anderen Kreis gerechnet werden können.<br />
Bei Raulff findet sich sogar <strong>die</strong> Bemerkung,<br />
dass C.H. Becker in den<br />
1920er Jahren eine Art „Schutzmantelmadonna“<br />
für <strong>die</strong> Georgeaner gewesen<br />
sei (S. 442, Anm. 35) , und er<br />
nennt auch einige Beispiele dafür. Im<br />
übrigen war das alles, wie man weiß,<br />
nicht zum Nachteil der preußischen<br />
und deutschen Kultur- und Bildungspolitik<br />
der Weimarer Republik, ganz<br />
im Gegenteil.<br />
Was nun <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>s Verhältnis<br />
zu Stefan George und dem George-<br />
Kreis betrifft, so hat Harro Siegel, ein<br />
Georgeaner und enger Freund des<br />
sehr viel älteren C.H. Becker, darüber<br />
ziemlich erschöpfend Auskunft gegeben:<br />
„Bei oft ausgesprochener Kritik<br />
an einzelnen Mitgliedern des sog.<br />
George-Kreises, bei aller Ferne seiner<br />
geistigen Haltung von der des Dichters<br />
und der seinen – gab es bei A.R.<br />
keine Kritik an St.G. selber – wenn er<br />
auch nie über <strong>die</strong> Begegnung und das<br />
etwa gehabte Gespräch sich auslassen<br />
wollte.“ (erster Briefband, S.305) Ähnliches<br />
berichtet Raulff aber auch über<br />
richtige, echte Georgeaner. Offenbar<br />
gelang es Stefan George <strong>immer</strong>, man<br />
weiß nicht wie, <strong>die</strong> jungen Männer,<br />
denen er <strong>die</strong> Gunst einer Begegnung<br />
und eines Gesprächs mit ihm gewährte,<br />
zum Schweigen zu verdonnern und<br />
ein Tabu um sich zu errichten. Die<br />
Feststellung Harro Siegels erinnert<br />
mich auch daran, dass er mir einmal<br />
sagte, er habe nie gewusst, wie nahe<br />
er eigentlich <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>, unter<br />
all seinen Freunden, gestanden habe.<br />
Vielleicht ging es ihm dabei auch um