„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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formpädagogik hatten ja Martin Buber:<br />
Rede über das Erzieherische 1925<br />
(„Weder Trichter noch Pumpe“), Kurt<br />
Zeidler: Die Wiederentdeckung der<br />
Grenze 1926, und Theodor Litt: Führen<br />
und Wachsenlassen 1927 bereits<br />
Wegweiser aufgestellt. Aber der neue<br />
Dritte Weg mußte nun unter viel<br />
schwierigeren Bedingungen schulpraktisch<br />
realisiert werden: „Es bestand<br />
für kurze Zeit eine Gefahr, daß<br />
man mit dem Drill zugleich <strong>die</strong> Berufung<br />
zu Dienst und Disziplin verwerfe.<br />
Man wollte das Fahrzeug erleichtern,<br />
flottmachen, aber man ging zu weit.<br />
Plötzlich fehlte der Tiefgang, der Kielführung<br />
und Kurs erst möglich macht.<br />
Es bestand Gefahr, und nicht nur in<br />
der Schule, das Kind ganz auf sich,<br />
sein angeborenes Schöpfertum zu begründen.<br />
Hatte man vordem das Kind<br />
für außer ihm liegende Zwecke geschult,<br />
so wollte man ihm nun das<br />
freie Spiel seiner Kräfte lassen. Gehorsam<br />
hob sich innerlich von selbst<br />
auf. Solche Zwischenversuche einer<br />
angeblich entfesselten Erziehung<br />
gründeten in einer falsch begriffenen<br />
Freiheit. Stießen wir vordem auf <strong>die</strong><br />
Fragwürdigkeit eines allzu eng gefaßten<br />
Gehorsams, so stoßen wir hier auf<br />
<strong>die</strong> Brüchigkeit einer zu flach begründeten<br />
Freiheit.“ (R 152) Dieses „weder-noch-sondern“<br />
der Unterrichtsgestaltung,<br />
mit der sich <strong>Reichwein</strong> in eine<br />
zunehmend dunkler und gefährlicher<br />
werdende Zukunft vorantastete,<br />
wird sichtbar und ergreifend fühlbar<br />
in Schernikaus Darstellung. „Es zeichnet<br />
sich insgesamt <strong>die</strong> schulpädagogische<br />
Visitenkarte eines Lehrers ab, der<br />
sich als deutscher Sozialist darin ausweist,<br />
dass er ‚Sozialismus’ nicht theoretisch<br />
vermittelt, sondern als Lebensform<br />
im Zusammenhang mit der<br />
Durchführung der (Werk-)Vorhaben<br />
und durch <strong>die</strong> Verbindung von Arbeit,<br />
Lernen und Leben. Der Leitspruch ‚Das<br />
gemeinsame Werk schafft <strong>die</strong> Gemeinschaft’<br />
Kaweraus, der uns im Abschnitt<br />
über <strong>die</strong> revolutionären Geschichtsdidaktiker<br />
des Jahres 1918<br />
begegnete, gilt auch für <strong>die</strong> kleine<br />
dörfliche Produktions- und Lebensgemeinschaftsschule<br />
aus Tiefensee“ (Sch<br />
325f).<br />
reichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
61<br />
6. Fünfmal von Weimar I nach Weimar<br />
II : Hundertjährige Durchgänge<br />
von der deutschen Klassik bis zu<br />
<strong>Reichwein</strong> durch fünf Fachdidaktiken:<br />
Biologie – Geografie – Volkskunde<br />
– Geschichte – Heimatkunde<br />
1. Nun erst folgen wir Schernikau auf<br />
seinem sehr sorgfältigen, sehr kenntnisreichen<br />
und genauen (aber auch<br />
etwas mühsamen) lehrplangeschichtlichen<br />
Gang durch <strong>die</strong> fünf einschlägigen<br />
Fachdidaktiken (Biologie-<br />
Geografie-Volkskunde-Geschichte-<br />
Heimatkunde) von den Klassikern bis<br />
<strong>Reichwein</strong>. Jedesmal können wir verfolgen,<br />
wie <strong>die</strong> Klassiker den Staffettenstab<br />
zuerst geschnitzt und dann<br />
weitergereicht haben und wie er in<br />
den vier, fünf Generationen verändert<br />
wurde, bis <strong>Reichwein</strong> ihn übernahm. –<br />
Allerdings: Die fünf Längsschnitte sind<br />
erstens nicht als Rezeptionsstu<strong>die</strong>n<br />
angelegt, sie zeigen nicht, was <strong>Reichwein</strong><br />
aus <strong>die</strong>sen Entwicklungsgängen<br />
sich angeeignet hat, sie beschreiben<br />
<strong>die</strong>se Entwicklungen nicht aus der<br />
Sicht <strong>Reichwein</strong>s, sondern aus Historikersicht.<br />
Zweitens wollen und können<br />
sie natürlich noch weniger zeigen, wie<br />
<strong>die</strong> Entsprechungen zwischen den<br />
Klassikern und <strong>Reichwein</strong> zustande<br />
gekommen sind; aber sie machen<br />
deutlich, daß <strong>Reichwein</strong> seine Klassikerverbundenheit<br />
aus anderen Quellen<br />
geschöpft haben muß. Was aber<br />
tragen sie dann zum <strong>Reichwein</strong>verständnis<br />
und zur These der Doppelfun<strong>die</strong>rung<br />
bei? Jedes <strong>die</strong>ser fachdidaktischen<br />
Längsschnitt-Kapitel mündet<br />
in <strong>die</strong> Schlußfrage „...und <strong>Reichwein</strong>?“<br />
Und wir sehen, wie der Reformpädagoge<br />
<strong>Reichwein</strong> angesichts<br />
des ihm gegenwärtigen Problemstandes<br />
der Fachdidaktiken mit sicherem<br />
Gespür erstaunlicherweise auch neue<br />
Lösungen „im Geist der Deutschen<br />
Klassik“ findet – wie und woher, das<br />
mögen <strong>die</strong> Götter wissen.<br />
2. Insgesamt können <strong>die</strong>se fünf<br />
Durchgänge zu spannenden Übungen<br />
werden, wenn wir uns als Leser vor<br />
der jeweiligen Problemlösung <strong>Reichwein</strong>s<br />
selber <strong>die</strong> Frage stellen: was<br />
wäre denn meine eigene reformpäda-<br />
gogische Problemlösung im Sinne von<br />
Herder/Goethe/Humboldt?<br />
Als Zusammenfassung eine Perspektive<br />
zur Weiterarbeit:<br />
Lehrkunst nach Wagenschein/Klafki<br />
und/oder nach <strong>Reichwein</strong>?<br />
Seit 25 Jahren haben wir im Lehrkunst-Ensemble<br />
10 von den rund 40<br />
Unterrichtsexempeln Wagenscheins<br />
nicht nur interpretiert, sondern über<br />
100mal im Unterricht neu inszeniert.<br />
Bei <strong>Reichwein</strong>s Unterrichtseinheiten<br />
ist das bislang noch nicht geschehen.<br />
Als Sprungbrett zu einer künftig selbständigen<br />
Unterrichtsinszenierung<br />
von <strong>Reichwein</strong>s Unterrichtseinheiten<br />
nehmen wir uns daher zunächst sachlich<br />
verwandte Lehrstücke nach Wagenschein/Klafki<br />
vor – <strong>die</strong> zehn Thurgauer<br />
Volksschul-Lehrstücke<br />
(Berg/Wildhirt u.a. 2004) – und fragen<br />
nach den Beiträgen und Vorschlägen<br />
<strong>Reichwein</strong>s dazu. Anstoß und Grundlage<br />
unserer Beratungen ist Schernikaus<br />
<strong>Reichwein</strong>buch, ein großer und<br />
kühner Wurf, der für <strong>die</strong> <strong>Reichwein</strong>rezeption<br />
in der Unterrichts- und Schulentwicklung<br />
neue Horizonte eröffnet.<br />
Denn mit <strong>die</strong>sem Buch über <strong>Reichwein</strong>s<br />
Goethe-Schule in Tiefensee hat<br />
Schernikau für unsere gegenwärtige<br />
und künftige Bildungslandschaft einen<br />
heilkräftigen Brunnen erschlossen mit<br />
seinem tiefgründigen und hellsichtigen<br />
Aufweis der Doppelfun<strong>die</strong>rung<br />
von <strong>Reichwein</strong>s Schulmodell in Weimar<br />
I und Weimar II, in der Deutschen<br />
Klassik und in der Reformpädagogik –<br />
ein ermutigendes, orientierendes und<br />
stärkendes Meisterwerk!<br />
Literatur<br />
Hans Christoph Berg: Lehrkunst im Traditionsstrom<br />
– dank Wagenschein 1986. In:<br />
Berg 2009, S. 22-27.<br />
Hans Christoph Berg: Den Bogen spannen.<br />
<strong>Reichwein</strong>s neue Aktualität. In: <strong>Adolf</strong><br />
<strong>Reichwein</strong>: Schaffendes Schulvolk – Film in<br />
der Schule. Die Tiefenseer Schulschriften –<br />
Kommentierte Neuausgabe 2 2009, S. 364-<br />
374.<br />
Hans Christoph Berg/Ullrich Amlung:<br />
„...und <strong>Reichwein</strong> mittendrin“. Was sagen<br />
heutige Schulreformer zu <strong>Reichwein</strong> – was