„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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tern in Berlin-Wannsee und während<br />
eines längeren Aufenthalts in Prerow<br />
ging es für ihn vor allem um <strong>die</strong> Sicherung<br />
einer neuen beruflichen Zukunft<br />
für <strong>die</strong> neu gegründete Familie. Im<br />
Frühjahr 1933 hat er sich zunächst um<br />
eine Emigration in <strong>die</strong> Türkei und <strong>die</strong><br />
dortige Professur bemüht und bis in<br />
den August darauf gehofft, weil er<br />
wohl ahnte, was ihm in Nazi-<br />
Deutschland bevorstehen könnte. Da<br />
<strong>die</strong> Aussicht auf eine dortige Professorenstelle<br />
unsicher war, bewarb er<br />
sich seit Juni 1933 – für alle Fälle - um<br />
eine Dorfschullehrerstelle in Preußen,<br />
in der Nähe Berlins, also gewissermaßen<br />
das Gegenteil einer Professur,<br />
was ihm offenbar als eine realistische,<br />
erreichbare und auch reizvolle Alternative<br />
erschien, wobei ihn der<br />
Schwiegervater Pallat mit seinen alten<br />
Verbindungen ins neue NS-<br />
Kultusministerium unterstützte. Aus<br />
<strong>die</strong>ser unsicheren Übergangszeit<br />
stammen <strong>die</strong> „Bemerkungen zu einer<br />
Selbstdarstellung“ vom Juni 1933 als<br />
Teil seiner Bewerbung um <strong>die</strong> Dorfschullehrerstelle.<br />
Sie beginnen mit einer<br />
„reservatio mentalis“ gegenüber<br />
dem neuen NS-Regime, versuchen<br />
dann aber, ohne allzu große Beschönigung<br />
und Anbiederung, seine bisherigen<br />
pädagogischen, patriotischen<br />
und auch sozialistischen Engagements<br />
in einer für das neue Regime akzeptablen<br />
Form darzustellen, wobei er<br />
schließlich auch <strong>die</strong> gefährliche Klippe<br />
seiner SPD-Mitgliedschaft, wenn man<br />
will elegant oder auch etwas peinlich,<br />
umschifft hat. Der gerade 35-jährige<br />
<strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong> glaubte damals anscheinend,<br />
wie viele seiner regimekritisch<br />
eingestellten Zeitgenossen, dass<br />
das NS-Regime nicht von langer Dauer<br />
sein könne, dass es in absehbarer Zeit<br />
scheitern würde und dass er es bis<br />
dahin durch geschicktes Lavieren<br />
überstehen könne, wenngleich es dafür<br />
keine schriftlichen Belege gibt.<br />
Als sich dann <strong>die</strong> türkische Option im<br />
August 1933 zerschlug, hat er wohl<br />
daran geglaubt, dass er auch als Dorfschullehrer<br />
in Tiefensee das NS-<br />
Regime überstehen könnte, sich im<br />
September bewußt auf das „Abenteuer“<br />
der „inneren Emigration“ ein-<br />
reichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
33<br />
gelassen und Anfang Oktober <strong>die</strong> ihm<br />
zugestandene Dorfschullehrerstelle in<br />
Tiefensee mit Überzeugung und Optimismus,<br />
ja mit einer gewissen Begeisterung<br />
angetreten, ohne sich über<br />
den damit verbundenen Statusverlust<br />
<strong>Gedanken</strong> zu machen, zumal ihm das<br />
Professorengehalt erstaunlicherweise<br />
erhalten blieb. Aus <strong>die</strong>ser Anfangszeit<br />
in Tiefensee stammt jener Brief an Frl.<br />
Walter, der durch Zufall erhalten blieb<br />
und erst sehr spät wiederentdeckt<br />
wurde, in dem er sich als der „nationale<br />
Sozialist“ bekennt, der er schon<br />
früher gewesen sei, der mit der<br />
Grundidee der „nationalsozialistischen<br />
Bewegung“ übereinstimme und<br />
daher glaube, so weitermachen zu<br />
können wie vorher, ohne sich selber<br />
verbiegen zu müssen. Eine starke<br />
These der Selbstbehauptung, <strong>die</strong> uns<br />
nachträglich noch etwas peinlicher<br />
berührt, als seine taktische, anschmiegsame<br />
Selbstdarstellung vom<br />
Juni 1933. Ob es weitere Äußerungen<br />
und Briefe <strong>die</strong>ser Art gegeben hat,<br />
wissen wir nicht. Vor allem wissen wir<br />
nicht, ob <strong>Reichwein</strong> das, was er an das<br />
Frl. Walther schrieb, wirklich glaubte<br />
und wie er es meinte, oder ob er, in<br />
Anbetracht des aufgehobenen Postgeheimnisses,<br />
damit rechnete, dass<br />
<strong>die</strong>ser Brief ebenso wie andere von<br />
Nazi-Zensoren der Reichspost gelesen<br />
werden würde und dass es daher<br />
zweckmäßig sein könnte, sich als nationaler<br />
Sozialist, sprich „Nationalsozialist“<br />
zu bekennen. Jedenfalls kann<br />
man spätestens <strong>die</strong>sen Brief, wenn<br />
nicht schon <strong>die</strong> „Bemerkungen“ vom<br />
Juni, als den Beginn einer Camouflage<br />
und eines Doppelspiels <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>s<br />
betrachten, <strong>die</strong> er in den folgenden<br />
Jahren, als sich <strong>die</strong> Hoffnung<br />
auf das Scheitern des Regimes zerschlug,<br />
mit Erfolg weiter betrieben<br />
hat. Die Selbstkennzeichnung als „nationaler<br />
Sozialist“ war dabei anscheinend<br />
ein Mittel, das ihm <strong>die</strong>ses Doppelspiel<br />
erleichterte, mit dem er einerseits<br />
seine berufliche Tätigkeit absichern<br />
und fördern konnte, mit dem<br />
er aber andererseits seine Distanz und<br />
Ablehnung gegenüber dem NS-<br />
Regime vor sich selbst und vor seinen<br />
Freunden zum Ausdruck bringen und<br />
rechtfertigen konnte. Er wusste ja,<br />
dass er ein ganz anderer „nationaler<br />
Sozialist“ war, als <strong>die</strong> herrschenden<br />
Nationalsozialisten an der Macht.<br />
Das war natürlich ein schwieriges und<br />
riskantes Doppelspiel, das ihm einerseits<br />
Kompromisse mit dem herrschenden<br />
Regime ermöglichte, andererseits<br />
aber <strong>die</strong> Gefahr einer zu starken<br />
Komplizenschaft und schuldhaften<br />
Verstrickung in das herrschende<br />
Regime in sich barg. Diesen Balanceakt<br />
kann man natürlich nachträglich<br />
so oder so beurteilen. Was <strong>Adolf</strong><br />
<strong>Reichwein</strong> schließlich dazu brachte,<br />
noch vor Kriegsbeginn von Tiefensee<br />
nach Berlin umzusiedeln und sich am<br />
Volkskundemuseum dem subversiven<br />
Widerstand der Gruppe um Moltke<br />
und Yorck anzuschließen, ob er <strong>die</strong><br />
inneren Widersprüche und Konflikte<br />
seiner bisherigen Existenz nicht mehr<br />
ertragen konnte und sich sozusagen<br />
„ehrlich“ machen wollte, oder ob ihn<br />
äußere Umstände, d.h. <strong>die</strong> zunehmende<br />
Repression im Innern<br />
und/oder <strong>die</strong> außenpolitischen, kriegerischen<br />
Abenteuer des Hitlerregimes<br />
von der Notwendigkeit des Widerstands<br />
überzeugten, wissen wir<br />
nicht. Vielleicht kann man <strong>die</strong>se subjektive<br />
„Wende“ auch auf <strong>die</strong> Formel<br />
bringen, dass der Nationalsozialismus<br />
an der Macht inzwischen all das verraten<br />
hatte, was <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong> zu<br />
einem „nationalen Sozialisten“ gemacht<br />
hatte. Vergessen wir auch<br />
nicht, dass <strong>Reichwein</strong> ein Mann war,<br />
der das Risiko und das Abenteuer<br />
liebte und der es auch liebte, auf der<br />
Klaviatur seiner menschlichen,<br />
freundschaftlichen und sozialen Beziehungen<br />
zu „spielen“.<br />
5.<br />
Der Widerstand der „Kreisauer“ hielt<br />
sich ja auch zunächst sehr in Grenzen.<br />
Sie waren alle noch recht jung und sie<br />
waren sich darüber im klaren, dass sie<br />
nicht in Positionen waren und über<br />
Mittel verfügten, mit denen sie systemgefährdende<br />
Aktivitäten planen<br />
und durchführen konnten. Es blieb<br />
ihnen zunächst also garnichts anderes<br />
übrig, als sich <strong>Gedanken</strong> über<br />
Deutschlands Zukunft nach der erwar-