„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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Von besonderer Bedeutung sind dabei<br />
(…) <strong>die</strong> auf Anschauung und Vergleich<br />
angelegten Phänomenreihen als typische<br />
Strukturelemente eines Unterrichts,<br />
dessen prinzipiellen Zusammenhang<br />
mit der „vergleichenden<br />
Morphologie“ Goethes wir (...) bereits<br />
herausgearbeitet haben. Anders formuliert:<br />
Nach meiner hermeneutischen<br />
Reise, (…) <strong>die</strong> ausging von Nohls<br />
Paradigmaskizze, in der dem „analytischen<br />
Zeitalter“ (Cassirer) der Aufklärung<br />
eine geisteswissenschaftlichphänomenologische<br />
Erkenntnisweise<br />
gegenübergestellt wird, für <strong>die</strong> „der<br />
unmittelbare ganzheitliche Bezug zu<br />
den Phänomenen des Lebens und deren<br />
Erschließung in genetischer und<br />
vergleichender Betrachtung“ von konstitutiver<br />
Bedeutung ist, und nach<br />
dem Aufenthalt an jenen Stationen,<br />
<strong>die</strong> der Erkenntnisweise Herders, Goethes,<br />
Humboldts und Wagenscheins<br />
gewidmet waren, – nach <strong>die</strong>ser Reise,<br />
so möchte ich formulieren, habe ich<br />
keine Schwierigkeiten, mich in der Tiefenseer<br />
„Familienwerkstatt“ einzufinden<br />
und einzurichten.<br />
Ich bin – mit den Worten der von<br />
Wolfgang Klafki geleiteten nordrheinwestfälischen<br />
Bildungskommission<br />
(1992-1995) gesagt, in einem „Haus<br />
des Lernens“ angelangt (vgl. Bildungskommission<br />
NRW 1995), in dem<br />
es im Aufgaben- und Sinnhorizont der<br />
damaligen Zeit um <strong>die</strong> Ermöglichung<br />
„verstehenden Lernens“ in „vollständig<br />
durchgeführten nachhaltigen,<br />
fundamentalen Lernprozessen“ ging.<br />
– Soweit <strong>die</strong> 3 zentralen von insgesamt<br />
300 Schernikau-Seiten, gehen<br />
wir nunmehr das Gesamtopus an.<br />
1. Ein neuer tiefgründiger und hellsichtiger<br />
Aufschluss:<br />
Ansatz, Aufbau und Rang von<br />
Schernikaus <strong>Reichwein</strong>buch<br />
1. Daß <strong>Reichwein</strong>s Tiefenseer Landschule<br />
eine der herausragenden, klassischen<br />
reformpädagogischen Schulmodelle<br />
darstellt, das ist bekannt und<br />
ist professioneller Konsens. Aber Tiefensee<br />
ist als reformpädagogisches<br />
Schulmodell erst halb und oberfläch-<br />
reichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
56<br />
lich verstanden – das ist Schernikaus<br />
sensationelle These: <strong>Reichwein</strong>s Tiefenseer<br />
Landschule ist erst als reformpädagogisches<br />
Schulmodell aus<br />
dem Geist der deutschen Klassik ganz<br />
und tiefgründig verstanden! Erst mit<br />
<strong>die</strong>sem vollen Verständnis können wir<br />
<strong>Reichwein</strong>s kostbares Erbe und Vermächtnis<br />
in <strong>die</strong> Zukunft weitertragen,<br />
und – im Umkehrschluß – wir verstehen<br />
auch <strong>die</strong> deutsche Klassik voller<br />
und tiefgründiger durch ihren Erbfolger<br />
Tiefensee. Schernikau hat <strong>die</strong>se<br />
These in einem außerordentlich sachkundigen<br />
und gleichwohl persönlichen<br />
Buch entfaltet, für das ich ihm<br />
mit <strong>die</strong>ser Leseempfehlung danken<br />
möchte. Allerdings: Ihm ist für seine<br />
sensationelle These erst ein augenöffnender<br />
aufschließender Aufweis<br />
gelungen, noch kein endgültiger Beweis.<br />
Ähnlich wie Alfred Wegener in<br />
einem großartigen Gestaltblick <strong>die</strong> atlantischen<br />
Küstenlinien von Nord- und<br />
Südamerika einerseits und Europa/Afrika<br />
andrerseits als zusammengehörig<br />
erkannte und viele triftige Belege<br />
für seine Hypothese der Kontinentaldrift<br />
aufzuweisen vermochte –<br />
<strong>die</strong> Ursachenklärung seines richtigen<br />
sensationellen Gestaltblicks mußte<br />
und durfte er der nächsten Generation<br />
überlassen. Auch Gottfried Hausmann<br />
– um näher an <strong>die</strong> Pädagogik<br />
heranzukommen – hat für seinen Gestaltblick<br />
auf „Didaktik als Dramaturgie<br />
des Unterrichts“ schlagende und<br />
erhellende Belege aufweisen können,<br />
aber eine Ursachenklärung steht bis<br />
heute noch aus. Durch <strong>die</strong>se Vergleiche<br />
hoffe ich, Statur und Status des<br />
m. E. bislang wichtigsten <strong>Reichwein</strong>-<br />
Buches, des Opus magnum von Heinz<br />
Schernikau, umrissen zu haben.<br />
2. Architektur und Dynamik des Werkes<br />
sind klar und schlicht: Das erste<br />
Viertel zeigt das „neue wissenschaftliche<br />
Weltbild“ (H. Nohl) der Deutschen<br />
Klassik (Sch 32-85), das letzte Viertel<br />
zeigt das Tiefenseer Schulmodell<br />
(<strong>Reichwein</strong>s „Jahresplan“, <strong>die</strong> Methode,<br />
<strong>die</strong> Gemeinschaftserziehung (Sch<br />
231-334), in der mittleren Hälfte führen<br />
uns fünf materialreiche Fachdidaktik-Kapitel<br />
(Biologie-Geografie-<br />
Volkskunde-Geschichte-Heimatkunde)<br />
auf dem hundertjährigen Entwicklungsgang<br />
von Herder/ Goethe/<br />
Humboldt zu <strong>Reichwein</strong> in den „Weltbild“-Horizont<br />
des übergreifenden<br />
Lehrplans ein (Sch 86-230). Diese Architektur<br />
wird dynamisiert durch Nohls<br />
These, daß <strong>die</strong> Deutsche Klassik<br />
zur Quelle der Bildungsidee geworden<br />
sei, weil ihr <strong>die</strong> Weiterbildung der<br />
mechanistischen Aufklärungwissenschaften<br />
zu „Lebenswissenschaften“<br />
in weltbürgerlichem Geiste gelungen<br />
sei – und <strong>die</strong>sen Impuls habe der<br />
„planetarischer Europäer“ <strong>Adolf</strong><br />
<strong>Reichwein</strong> auf dem linksnationalen<br />
Flügel der Reformpädagogik früh aufgenommen<br />
und in Tiefensee auch im<br />
Hitler-Deutschland beharrlich und geschmeidig<br />
weitergeführt.<br />
2. Schernikaus These:<br />
Die Doppelfun<strong>die</strong>rung von <strong>Reichwein</strong>s<br />
Schulmodell Tiefensee: Reformpädagogik<br />
und deutsche Klassik<br />
Schernikaus These läßt sich schon aus<br />
seinem Buchtitel ablesen: „Tiefensee.<br />
Ein Schulmodell aus dem Geist der<br />
Deutschen Klassik. Reformpädagogik<br />
am Beispiel <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>s“. Dieser<br />
Titel läßt sich zur These ausformulieren:<br />
‚<strong>Reichwein</strong>s Tiefensee ist ein reformpädagogisches<br />
Schulmodell aus<br />
dem Geist der Deutschen Klassik und<br />
wird nur in <strong>die</strong>ser Doppelfun<strong>die</strong>rung<br />
verständlich.’ Hierzu zwei Erläuterungen:<br />
1. Die Deutsche Klassik – Herder/Goethe/Humboldt<br />
– hat sich mit<br />
ihrem Weltbild und ihrer Bildungsidee<br />
trotz der Bildungsreformen Humboldts<br />
nicht zu einer angemessenen<br />
Schul- und Unterrichtsgestalt durchzuringen<br />
vermocht. Auch nicht in den<br />
hundert Jahren danach. Erst mit der<br />
Reformpädagogik der Weimarer Republik,<br />
und auch erst mit ihrer späten<br />
realistischen Wende – Buber, Zeidler,<br />
Litt – öffnet sich endlich wieder eine<br />
echte Verwirklichungschance. Aber<br />
dann siegt der Hitlerismus über <strong>die</strong><br />
Weimarer Republik, verfälscht <strong>die</strong><br />
Deutsche (Weimarer) Klassik und ächtet<br />
<strong>die</strong> Reformpädagogik. Und trotzdem:<br />
In den widrigen Verhältnissen