WASSermythen ÜbernatÜrlich, launenhaft, bedrohlich text mArtin POLLAck iLLUStrAtiOn JUttA heLLGreWe Sie bewohnen Gewässer, sind von betörender Schönheit und ziehen das Unglück an. Wassergeister faszinierten im 19. Jahrhundert nicht nur die Slawen, die ihnen besonders anhängen, wie Antonín Dvořáks Oper Rusalka zeigt. Sie stehen für die Sehnsucht nach emotionaler Freiheit und einem selbstbestimmten Leben ohne bürgerliche Zwänge. 1 8
WASSermythen ihr Anblick ist erregend und verlockend. Gertenschlanke mädchen mit langem, wallendem haar, golden oder grünlich schimmernd, gehüllt in leichte, durchsichtige Gewänder, manchmal auch nackt, auf dünnen Birkenzweigen an einem Gewässer sitzend, wiegen sich, lachen und singen mit hellen Stimmen so herrlich, dass ihnen kein Bursche widerstehen kann, wenn sie ihn fröhlich, mit wippenden Brüsten auffordern, mit ihnen zu schaukeln oder einen flotten reigen zu tanzen. Doch wehe dem, der dieser einladung Folge leistet, verblendet vom reiz der jungen Dinger – den nehmen sie in die mitte und tanzen mit ihm in rasendem Wirbel, bis ihm die Lunge platzt und er sein Leben aushaucht, zu tode getanzt von den koketten. Oder sie kitzeln ihn mit sanften Fingern, sodass er am eigenen Lachen erstickt. Zuweilen locken sie einen vorwitzigen feschen Burschen auch in ihr heimisches element, ins Wasser, um ihn wie einen hilflosen Welpen zu ertränken. Die rede ist von den rusalki, Angehörigen der zahlreichen Schar slawischer naturgeister und Dämonen, die in oder an Gewässern hausen, in meeren, Flüssen und Bächen, Weihern, Sümpfen und Seen, Brunnen und Quellen. ihr name leitet sich ab von dem vor allem bei den Südslawen bekannten rosenfest rosalia /rusalia, begangen mit Umzügen zu ehren der toten, bei denen getanzt und gesungen wurde – ein relikt aus heidnischen Zeiten. rosalia fällt mit dem christlichen Pfingstfest zusammen. im ehemaligen Galizien streuten mädchen am Vorabend des Pfingstsonntags rosen in die Bäche, um die darin lebenden weiblichen Wesen günstig zu stimmen und davon abzuhalten, ihre Burschen zu verführen oder ihnen gar nach dem Leben zu trachten. P r e m i e r e r U S A L k A Die so verführerischen wie gefährlichen, Gewässer aller Art und ihre Ufer bewohnenden Jungfrauen waren den Slawen von alters her vertraut, die mythischen Gestalten nahmen einen festen Platz im Volksglauben ein, in Liedern, märchen und Legenden. im neunzehnten Jahrhundert wird diese erotisch aufgeladene traumwelt aufs neue entdeckt, die aus der tiefe (des Unbewussten) tauchenden, leicht geschürzten Geister symbolisieren die bedrohlichen kräfte der entfesselten erotik, die die ruhe und Sicherheit der bürgerlichen Lebenswelt infrage stellen. Gleichzeitig stehen sie für das drängende Verlangen nach dem Ausbruch aus dieser engen, miefigen, spießigen Welt. Doch die von den mythischen Sphären ausgehende Faszination ist nicht allein erotischer natur. Die schönen Wassergeister verkörpern auch die Sehnsucht des modernen menschen nach einem neuen, unbeschwerten Lebensgefühl, nach einem Leben im einklang mit der natur, fern vom Gehetze und Gedröhne der Großstadt, befreit von den Fesseln der bürgerlichen konvention. Dunkle Waldweiher und rauschende Gebirgsbäche als Sehnsuchtsorte des städtischen menschen. Ursprünglich waren die rusalki unter anderen namen bekannt, je nach region verschieden, von denen manche noch heute in Gebrauch sind: Beregyni, die auch auf Bergen wohnen können, Vili (bei Serben und russen gebräuchlich), Samovili (bei den Bulgaren im Osten), Samodivi (in Westbulgarien), mavki und navki (in der Ukraine und Weißrussland), Boginki, topielice, mamuni, Vodnici, um nur ein paar Bezeichnungen für die weiblichen Wassergeister aufzulisten. Ob die unterschiedlichen namen jeweils die gleichen Wesen benennen oder andere, anders aussehende, mit anderen P-r-e-M-i-e-r-e Rusalka 1 9 Rusalka lyrisches Märchen in drei akten op. 114 von antonín Dvořák Premiere am 23. Oktober 2010 weitere termine im Spielplan ab S. 90