Ballett Charles Baudelaire war der ansicht, das genie sei „nichts anderes als die wiedergefundene Kindheit“. Das mag nicht für jeden Künstler gelten – auf maurice ravel und große teile seiner musik trifft es ganz sicher zu. in seiner villa le Belvédère in montfort l’amaury bei Paris schuf er sich eine Fantasiewelt, in der – wie wir es unter anderem von Hélène jourdan-morhange wissen – „die gegenstände von bescheidenem aus maß Kinderspielzeuge zu sein scheinen … ich kann die anhäufung von bunt bemalten schachteln, glaswaren, Figurinen in Flaschen, Kugeln von 1880 (auf dem Klavier auf geschichtet), lampen, tintenfässer im stil von Kathedralen und die gänsefeder auf dem arbeitstisch nicht beschreiben.“ maurice ravel umgab sich mit nippesfiguren, Chinoiserien, gefälschten japanischen vasen und Holzschnitten, einer mechanischen nachtigall mit spielwerk, einem garten mit Bonsaibäumchen und anderen kunstvoll arrangierten Zwergpflanzen. es war ein reich voller geheimnisse, in dem sich dieser klein gewachsene mann und unvergleichliche Komponist den träumen eines Kindes hingab. Diesen traumwelten entsprang ravels Werk, etwa der „jardin féerique“ am ende der suite „ma mére l’oye“ oder die wunderbare Oper „l’enfant et les sortilèges“, die der generalmusik di rek tor der <strong>Bayerische</strong>n staatsoper Kent na gano in dieser spielzeit dirigieren wird. nagano liebt ravels musik und gehört seit vielen jahren zu ihren herausragenden interpreten. er schätzt sie nicht zuletzt wegen ihres ganz eigenen und unverwechselbaren Zuschnitts, einer so vielleicht kein zweites mal in der musikgeschichte verwirklichten mischung aus hochgradig artifiziellem Charakter und einer sehr spezifischen, zurückhaltend feinen Form von expressivität und emotionalität, die nagano ganz besonders liegen dürfte: „Das thema der künstlichen Paradiese und der traumrealitäten spielte für ravel eine ganz wichtige rolle. Darin ist er ein Kind seiner Zeit. und gewiss hat die intensität, die aus ravels schöpfungen spricht, etwas mit den Defiziten seiner lebensrealität zu tun. man kann sie 6 0 wohl als eine art gegenentwurf zum leben deuten, ganz ähnlich wie bei Franz schreker oder alexander skrjabin.“ Oder auch, so ließe sich vielleicht ergänzen, bei alexander Zemlinsky, dessen Oper „Der Zwerg“ nagano mit ravels „l’enfant et les sortilèges“ zu einem Opernabend zusammenschließen wird. Zuvor aber steht ein anderes ravel-Projekt naganos an: ein zweiteiliger Ballettabend mit der symphonie choréographique „Daphnis und Chloé“ sowie dem Klavierkonzert für die linke Hand, das von zwei frühen Orchesterwerken ravels, der „Pavane pour une infante défunte“ und „une barque sur l’océan“, umrahmt wird. Denn am münchner nationaltheater arbeitet mit ivan liška ein weiterer Künstler, den ravels musik seit jahrzehnten begleitet. seit langem träumt der Direktor des <strong>Bayerische</strong>n staatsballetts davon, „eine der schönsten Ballettpartituren überhaupt“ auf der Bühne zu realisieren. ivan liška begegnete ravels musik schon als Kind in den Konzert sälen seiner Heimatstadt Prag, später dann als tänzer an den theatern von Düsseldorf und Hamburg: „,Daphnis‘ ge hört zu den großen erlebnissen meines lebens. Das Hamburger Ballett führte es einmal im amphitheater von Pom peji auf, mit lorin maazel und dem Orchestre de Paris. john neumeiers groß artige Choreografie spielt mit der erinnerung an die anti ke, und das passte an diesem Ort natürlich optimal. es war ein magi scher mo ment meiner Karriere, in dem alles zusammenkam. Wir hatten wirklich das gefühl, an der entstehung eines wahren Kunstwerkes beteiligt zu sein.“ von daher kam na ganos angebot, gemeinsam mit dem <strong>Bayerische</strong>n staatsballett ein ravel-Projekt zu realisieren, wie ein geschenk des Himmels. Dass ein generalmusikdirektor an einem Ballettabend persönlich ans Pult tritt, ist eher ungewöhnlich, doch Kent nagano mag nicht recht verstehen, weshalb eigentlich: „Das staatsballett hat unter der leitung von ivan liška ein großartiges Programm und Profil entwickelt und erfreut sich höchster anerkennung. auch ich schätze liškas arbeit sehr. Früher war es üblich, dass der musikalische Chef auch Ballettabende dirigierte. Damit machte er deutlich, welche Bedeutung dem tanztheater zukam. in münchen tat das zuletzt rudolf Kempe – vor mehr als einem halben jahrhundert. Weil an vielen Häusern die Bereiche Oper und Ballett streng voneinander getrennt sind, steht bei Ballettaufführungen die Choreografie ganz im vordergrund, während die musikalische Präsentation ins Hintertreffen gerät. Dabei hat die moderne tanzkultur bedeutende Werke für den Konzertsaal oder sogar den liturgischen rahmen adaptiert – von Bach, mahler, Brahms, Bruckner. und die Ballettkompositionen von tschaikowsky, strawinsky, Proko ew oder ravel sind grandios und sollten musikalisch bestmöglich realisiert werden, zumal an einem Haus, das auf eine große tradition verweisen kann.“
B a l l e t t »Die Musik erzählt vom sexuellen Erwachen zweier junger Menschen, die sich verlieren und wiederfinden. Das erinnert mich daran, welche Verwirrung das bei mir selber auslöste.« »Daphnis gehört zu den großen Erlebnissen meines Lebens.« »Seit ich Tänzer bin, liebe ich dieses Konzert, seine Mischung aus hämmernden Rhythmen und Passagen, in denen man sich fühlt, als schwebe man im Wasser und in der Luft zugleich.« Ivan Liška 6 1