PDF-Download - Bayerische Staatsoper
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INGRId BEtANCouRt<br />
gressgebäudes gestartet hatten. Wir taten also viel, damit<br />
die Regierung endlich etwas unternahm, denn es herrschte<br />
eine unglaubliche Lethargie und Behäbigkeit. das lag aber<br />
nicht nur an der Regierung, sondern auch an der Öffentlichkeit<br />
und den Medien, die manchmal zwei oder drei Monate<br />
keine einzige Meldung über die Entführten brachten. das<br />
machte uns Angst, war aber auch eine Aufforderung, für<br />
Aufmerksamkeit zu sorgen. Früher protestierten nur die<br />
Angehörigen der Entführten, heute ist zum Glück die ganze<br />
kolumbianische Gesellschaft aufgewacht.<br />
Mj War Ihr Kampf auch ein Akt der treue – wie<br />
in Beethovens oper?<br />
jCl Mehr als ein Akt der treue war es ein Akt der Liebe.<br />
Alles, was ich tat, tat ich aus Liebe: Ich ließ mir Ingrids<br />
Gesicht auf meinen Arm tätowieren, ich ließ die Fotos von<br />
ihren Kindern über dem dschungelgebiet abwerfen, wo man<br />
glaubte, dass sie festgehalten wurde. Mich motivierte aber<br />
auch, einer Idee treu zu sein. Ich war nicht nur in Ingrid<br />
verliebt, auch ihre Ideale. Natürlich hätte das eine Liebe<br />
ohne Ehe sein können, aber genauso wie Leonore und Florestan<br />
waren wir eben verheiratet.<br />
Mj um die Erinnerung wachzuhalten, spricht Florestan<br />
in seinem Kerker mit Leonores visionärem<br />
Bild. Auf welche Art und Weise haben Sie die Nähe<br />
zu Ihrer Frau gesucht?<br />
jCl um weitermachen zu können, habe ich immer wieder<br />
die Fotos von unseren Familienurlauben angeschaut.<br />
Viele dinge gingen mir durch den Kopf, wenn ich nächtelang<br />
unsere Fotos betrachtete. Ich habe immer gesagt, dass<br />
der tod irgendwie leichter zu verkraften gewesen wäre.<br />
Man trauert vielleicht ein Jahr, vielleicht drei Jahre, meine<br />
trauer aber war dauerhaft. Eine trauer, die man immer<br />
mit sich schleppt, eine Wunde, die nie heilt. Mein Leben<br />
war komplett davon bestimmt, was ich für Ingrid und die<br />
anderen zu tun hatte und was ich eventuell noch hätte tun<br />
können.<br />
„Mich motivierte auch, einer<br />
Idee treu zu sein. Ich war<br />
nicht nur in Ingrid verliebt,<br />
auch in ihre Ideale.“<br />
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2<br />
Mj Ihre Frau war tatsächlich gefangen. Kann man<br />
bei Ihnen von einer Art psychischer Mitgefangenschaft<br />
sprechen?<br />
jCl das Leben spielt sich in einer Art Seifenblase ab. das<br />
laugt einen aus und man fühlt sich schuldig für viele dinge.<br />
Wenn ich zum Beispiel etwas Gutes zu essen hatte, dachte<br />
ich, dass sie nur sehr schlechtes oder gar kein Essen bekam;<br />
wenn ich mich mit warmem Wasser duschte, dass sie gar<br />
nicht duschen konnte; wenn ich in einem bequemen Bett<br />
lag, dass sie auf dem Boden schlief. Wenn ich ins Kino oder<br />
mit Freunden in ein Café ging, dachte ich, dass mich die<br />
Leute sicher komisch anschauen würden, weil ich mich vergnügte,<br />
während meine Frau litt. Auf gewisse Weise wird<br />
man dadurch selbst zu einem Gefangenen.<br />
Mj Wie haben Sie es geschafft, die Hoffnung nicht<br />
aufzugeben?<br />
jCl Mir haben vor allem die gelegentlichen Lebenszeichen<br />
geholfen, die ich von Ingrid bekam – insgesamt vier während<br />
der sechs Jahre Gefangenschaft. diese Videobotschaften<br />
gaben mir die Kraft weiterzukämpfen, da mir Ingrid<br />
immer einige Worte der Liebe sagte, die sehr poetisch und<br />
zärtlich waren.<br />
„Wenn ich etwas Gutes zu<br />
essen hatte, dachte ich, dass<br />
sie nur sehr schlechtes oder<br />
gar kein Essen bekam.“<br />
Mj Mit welchen Gefühlen haben Sie diese Videobotschaften<br />
gesehen?<br />
jCl die letzte war die traurigste von allen: Ingrid war<br />
sehr abgemagert und schaute nicht in die Kamera. Sie stammelte<br />
nur ein paar Worte, als ob sie kurz vor dem Sterben<br />
wäre. drei Jahre lang hatte ich kein zeichen von ihr bekommen,<br />
es gab nur Gerüchte, dass sie sehr krank geworden<br />
und bereits gestorben sei. Es war schrecklich und quälend,<br />
so lange zeit nichts von ihr zu hören. Als dann ein Lebenszeichen<br />
kam, sahen wir zwar, dass es ihr sehr schlecht ging,<br />
aber immerhin wussten wir, dass sie lebt.<br />
Mj Sie sagen, dass Sie, bevor Sie Ingrid Betancourt<br />
kennengelernt haben, wenig Interesse an Politik hatten.<br />
Wodurch hat sich das geändert?<br />
jCl In vielen Ländern, auch in den Vereinigten Staaten,<br />
gehen 50 Prozent der Bevölkerung nicht zur Wahl. Ich habe<br />
früher auch nicht gewählt. Natürlich hatte ich ein politisches<br />
Gewissen, aber ich hatte den Eindruck, dass meine<br />
Stimme absolut unwichtig sei, wie ein tropfen auf den heißen<br />
Stein – sie habe keine Wirkung, könne die dinge nicht<br />
ändern. Als ich Ingrid kennenlernte, änderte sich das. Sie<br />
war wie besessen davon, die kolumbianische Politik zu ändern<br />
und vor allem die Korruption zu bekämpfen. das gefiel<br />
mir an ihr. Ich habe mich in ihre politische Botschaft verliebt,<br />
in ihren Ehrgeiz, ihren Glauben an das Land und die<br />
Leute sowie daran, dass es möglich ist, etwas zu ändern.