f r e i g ä N G E R I N den, was ihr die Eltern niemals geben konnten: die Rechtfertigung dafür, sich künstlerisch ausdrücken zu dürfen, und die Freiheit, verrückt zu sein. 1955 werden ihre Arbeiten erstmals in den USA gezeigt, drei Jahre später zieht sie nach New York. Sie wohnt in verwahrlosten Apartments, besucht Kurse der Art Students League, verkauft Bilder auf der Straße. Fotos zeigen sie nun sexy. Weite Pullover hat sie mit engen Kleidern getauscht. In ihrem Netz verfängt sich als Erster der damals noch unbekannte Minimalist Donald Judd. „Er war ein Theoretiker, hatte Probleme, seine Gedanken konkret umzusetzen. Wir saßen eines Abends in unserm Loft und er jammerte: ,Ich bin verloren! Wie soll das jetzt weitergehen?‘ Vor uns stand eine Kiste, die wir als Tisch benutzten. Ich gab ihr einen Tritt und sagte: ‚So soll’s weitergehen. Das hier ist deine Arbeit!‘“ Judds halbierte Boxen und Regal-Objekte sind seither in Museen auf der ganzen Welt zu finden. Sie zieht in eine neue Wohnung, wo die Nachbarn Larry Rivers, John Chamberlain und On Kawara heißen – mittlerweile alle drei als Heroen der Sixties- Kunst bekannt. „Als ich einmal auf dem Flur eine Angstattacke erlitt, kam mir Kawara zu Hilfe. Er hat mich beruhigt. Wir legten uns nackt ins Bett, hielten uns die ganze Nacht in den Armen, ohne Sex.“ Den wohl größten Namen in Yayois Männersammlung hat Joseph Cornell. Berühmt machten ihn surreale kleine Schachteln und Schaukästen mit befremdlich kleinen Objekten, die er zu poetischen Tableaus anordnete. Weil er dabei Alltagsgegenstände einsetzte, gilt er als Vorvater der Pop-Art. Als sie sich 1963 treffen, ist er, der fast drei Jahrzehnte Ältere, fasziniert von Yayois exotischer Aura. Dass er ihr ab und zu seine Arbeiten zum Verkauf überlässt, kommt ihr im New Yorker Überlebenskampf mehr als gelegen. „Mit Joseph hatte ich die längste Beziehung meines Lebens. Er war fast zehn Jahre lang mein Geliebter.“ Zu Beginn der 60er füllen sich Yayois Wohnstudios mit riesigen monochro Hi! Konnichiwa! Hello!, 2004, Yayoi Kusama men Leinwänden, die nur eines zeigen: Punkte. Die sogenannten Polka Dots verknüpfen sich zu flimmernden Schichten, die sie selbst als „Unendlichkeitsnetze“ bezeichnet. „Jeder einzelne Polka Dot hat die Form der Sonne und symbolisiert maskuline Energien. Zugleich aber entspricht er auch der Form des Mondes und steht deshalb für das weibliche Prinzip der Vermehrung und des Wachstums.“ Ein Statement, wie geschaffen für Kunstkritiker auf der Suche nach feministischen Elementen, was Kusama allerdings dementiert: „Meine Mutter kontrollierte den Haushalt. Ich bin in einem Matriarchat aufgewachsen. Ging es mir deshalb besser?“ 1963 verblüffte sie die New Yorker Kunst welt mit ihrer Einzelausstellung „Aggregation: One Thousand Boats Show“. Den Mittelpunkt bildete ein Ruderboot, beladen mit handgenähten, wurmartigen Wucherungen. 999 Reproduktionen davon hingen ringsum an den Wänden der Galerie. Yayoi ist fest davon überzeugt, dass dieser Event später als Vorlage für Andy Warhols berühmte Installation „Cow Wallpaper“ gedient hat. 3 2 Warhol hat sich dazu zwar niemals geäußert, aber Yayoi ist von nun an unter anderem auch eine Pop-Art-Künstlerin. Ihr Leben verläuft weiterhin holprig: Herzbeschwerden, Wohnungsprobleme, massive Geldnöte. Eine Einladung zur Retrospektive der deutschen Kunstbewegung „Gruppe Zero“ lässt in ihr die Hoffnung aufkeimen, sich in Europa etab lieren zu können. Flowers That Bloom at Midnight, 2009, Courtesy Gagosian Gallery, Yayoi Kusama Sie tingelt umher in Gruppenshows, die großen Einzelausstellungen aber bleiben aus. Einen Ausweg sucht sie, indem sie die Selbstdarstellung auf die Spitze treibt. Sie rekelt sich splitternackt mit hochhackigen Schuhen auf ihren Stoffobjekten, präsentiert ihren knabenhaften, verführerischen Körper zusammen mit Polka Dots. Sie schart Kunstgroupies um sich, die Spaß daran haben, in Yayois Happenings aufzutreten. Hüllenlos tanzen sie vor der New Yorker Börse, protestieren gegen den Vietnamkrieg und bekritteln die Kunst im Museum of Modern Art – ebenfalls unbekleidet. „Können Sie mir sagen, was an Picasso, Renoir und Giacometti so modern ist?“, will sie vom Museumsdirektor wissen. „Es ist Zeit, dass wir uns von diesen Männermalern befreien!“
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