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Wladimir Kaminer Russendisko

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gesellschaftskritische Bedeutung, weil sie in oft überzogener<br />

Form die Stimme des Volkes zum Ausdruck brachten. Der<br />

Chor setzte bei seinen Schnadahüpfel einige Sachbearbeiter des<br />

Potsdamer Sozialamts sowie der Einwanderungsbehörde der<br />

Kritik aus und rief zugleich alle jüdischen Einwanderer und die<br />

Russlanddeutschen auf, mehr zusammenzuhalten und ihre<br />

Freundschaft zu verstärken. Denn immerhin hätten beide<br />

Gruppen eine gemeinsame Vergangenheit, die Sowjetunion.<br />

Als nächster Unterhaltungsgast trat ein Mann auf, der schon<br />

seit geraumer Zeit unter dem Spitznamen »der Übersetzer« in<br />

der Potsdamer Einwanderer-Szene bekannt ist. Seit Jahren<br />

übersetzt dieser Mann den berühmtesten aller russischen<br />

Dichter, Puschkin, und zwar ein und dasselbe Gedicht und das<br />

immer wieder neu. Es heißt »An den Dichter«. Dieses Gedicht<br />

hatte Puschkin sich seinerzeit selbst gewidmet. Nun trug es<br />

»Der Übersetzer« in einer neuen modernen Version vor, in der<br />

sich alles reimte: »Scher dich nicht drum mein Freund, ob man<br />

dir Beifall spende / Bleib cool -gelassen bis ans Ende / Geh<br />

freien Geists wohin dein Weg sich wende / Und deiner<br />

Schöpfung Frucht mit stillem Schrei vollende«.<br />

Am Ende der Veranstaltung des Frauenclubs der jüdischen<br />

Gemeinde nahmen alle Anwesenden an einer Mahlzeit teil: die<br />

Mädchen mit freiem Oberkörper, das Kinderballett, der<br />

gemischte Chor der jüdischen Gemeinde, der<br />

Puschkinübersetzer wie auch einige zufällige Passanten, die zur<br />

nächtlichen Stunde noch Licht in der Kirche am Kirchsteigfeld<br />

gesehen hatten. Sie alle versammelten sich um den Tisch mit<br />

den Speisen und Getränken. Es gab Lebkuchen und Kadarka<br />

bis zum Abwinken. Nur der evangelische Pfarrer blieb alleine<br />

in seiner Ecke sitzen. Auch nach dem letzten Bauchtanz, als<br />

endlich auch der Rest nach Hause ging, rührte er sich nicht.<br />

Bestimmt blieb er noch die halbe Nacht dort sitzen und dachte<br />

über all das nach, was an diesem Tag passiert war.<br />

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