Wladimir Kaminer Russendisko
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wurden abgebrochen, Ampeln waren außer Betrieb, und sogar<br />
die Straßenbahnen blieben stehen. Meine Frau wusste davon<br />
aber nichts. Als es in der Wohnung immer dunkler wurde,<br />
entschied sie sich kurzerhand, die Strompanne zu beseitigen.<br />
Sie nahm eine Kerze und ging in den Keller an den<br />
Sicherungskasten. Vor dem Kasten sah sie einen<br />
ausgewachsenen Mann am Boden liegen, der sich nicht<br />
bewegte. »Das ist bestimmt der Elektriker«, dachte meine Frau<br />
sofort, »der durch die Vernachlässigung der<br />
Sicherheitsmaßnahmen den Kurzschluss verursacht hat und<br />
dabei ums Leben kam, oder mindestens schwer verletzt<br />
wurde.« Sie lief schnell die Treppe hoch, klopfte an alle<br />
Wohnungstüren und forderte die Nachbarn lautstark auf, mit<br />
ihr den Elektriker nach oben zu tragen. Doch die Nachbarn<br />
hatten sich alle in ihren dunklen Wohnungen verkrochen und<br />
wollten den toten Elektriker nicht retten. Nur die Vietnamesen<br />
aus dem ersten Stock machten auf. Aber mit meiner Frau<br />
zusammen in den dunklen Keller zu gehen, dazu waren auch<br />
sie zu feige. Daraufhin entschied sie sich, den Elektriker alleine<br />
aus dem Keller zu zerren. Sie hatte den Verdacht, dass sein<br />
Körper noch unter Strom stehen könnte, deswegen ließ sie sich<br />
von den Vietnamesen ein Paar Gummihandschuhe geben. Dann<br />
ging sie runter, hob den Mann auf und schleppte ihn die Treppe<br />
hoch. In ihren Armen fing der tote Elektriker an,<br />
Lebenszeichen von sich zu geben. Gerade als die beiden den<br />
zweiten Stock erreicht hatten, ging das Licht wieder an. Unter<br />
der elektrischen Beleuchtung erwies sich der halbtote<br />
Elektriker als ein vollbesoffener Penner, der es sich in unserem<br />
Keller gemütlich gemacht hatte. Als er wach war, bat er meine<br />
Frau höflich um ein paar Groschen, wo sie ihn doch sowieso<br />
schon mit sich herumtrage. Meine Frau stand etwas verlegen<br />
im Treppenhaus, noch immer in Gummihandschuhen, mit der<br />
Kerze in der einen Hand und dem Penner in der anderen. Sogar<br />
die Vietnamesen, die sonst immer so zurückhaltend sind,<br />
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