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Wladimir Kaminer Russendisko

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zentrales Holocaust-Mahnmal. Trotzdem verlor er nicht die<br />

Hoffnung, irgendwann für seine Muschel den richtigen Platz zu<br />

finden. Ich dachte anschließend noch eine Weile, besonders<br />

beim Teetrinken, über die heutige Kunst nach, doch dann<br />

vergaß ich die Geschichte erneut.<br />

Der Frühling kam, die Tage wurden wärmer. Er hatte eine<br />

Einladung aus Prag bekommen. Seine Muschel sollte als<br />

Denkmal zur Erinnerung an die Massenvergewaltigungen<br />

tschechischer Frauen durch sowjetische Soldaten bei ihrem<br />

Einmarsch in die CSSR 1968 aufgestellt werden. Sergej fragte<br />

mich, ob es günstiger wäre, die Muschel mit einem Lastwagen<br />

oder mit der Bahn nach Prag zu verfrachten. Wir verabredeten<br />

uns zum Tee, saßen eine Weile zusammen, unterhielten uns<br />

über Kunst und wollten sogar schon zusammen nach Prag<br />

fahren. Es kam aber dann doch nicht dazu. Zwei Wochen<br />

später erhielt Sergej eine Absage: Aus finanziellen Gründen<br />

sollte das Ganze noch einmal überdacht werden. Zu Hause<br />

blätterte ich eine Weile in Kunstzeitschriften, hörte dann aber<br />

wieder damit auf und widmete mich dem Alltag.<br />

Endlich wurde es Sommer. An den Bäumen wuchsen wieder<br />

die Blätter und auf den Wiesen das Gras. Sergej bat mich, ihm<br />

zu helfen, seine Muschel nach Hamburg zu transportieren, wo<br />

sie auf einer Erotikmesse das unerfüllte Verlangen nach<br />

Vaginalkontakten ausdrücken sollte. Wir hatten eine Menge<br />

Spaß in Hamburg. Rund um Sergejs Meisterwerk sammelten<br />

sich Männer und kratzten am Beton. Eine Frau mittleren Alters<br />

blieb stehen, als sie die Plastik sah, errötete und warf unsichere<br />

Blicke um sich. Nach ein paar Tagen fuhren wir mit der<br />

Muschel im Anhänger wieder zurück nach Berlin. Wir waren<br />

beide verkatert, unsere Wege trennten sich. Eine Zeitlang<br />

erinnerte ich mich noch an Hamburg, dann vergaß ich die<br />

Erlebnisse dort.<br />

Es wurde Herbst, die Tage wurden kühler, die Straßen leerer.<br />

Ich lief ziellos durch die Stadt, auf einmal stand ich vor einem<br />

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