Wladimir Kaminer Russendisko
Wladimir Kaminer Russendisko
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Berliner Porträts<br />
Ein Freund kam zu mir und fragte, ob ich nicht zufällig einen<br />
Kosmetikchirurgen kennen würde und wie teuer eine<br />
kosmetische Operation kommen könnte. Er wolle sich ein<br />
neues Gesicht verpassen lassen. Ich wunderte mich, denn<br />
bisher war Sascha immer mit seinem Äußeren zufrieden<br />
gewesen. Ich empfahl ihm stattdessen einen Kinderpsychiater,<br />
den ich zufällig vor kurzem kennen gelernt hatte und erklärte<br />
ihm, das Einzige, was er an seinem Gesicht ändern solle, sei<br />
der Ausdruck - es wirke so tragisch. Sascha wurde wütend,<br />
weil ich sein Problem nicht ernst nahm und erzählte mir, was<br />
man ihm angetan hatte.<br />
Seine neue Freundin schleppte ihn ständig zu irgendwelchen<br />
Partys. Einmal waren sie zu einer Vernissage eingeladen, es<br />
war die Ausstellungseröffnung einer Galerie in Mitte. Sascha<br />
wäre an dem Tag lieber zu Hause vor dem Fernseher<br />
geblieben, und dann wäre das alles auch gar nicht passiert. Der<br />
Raum war mit neugierigem Publikum brechend voll, es<br />
herrschte eine feierliche Stimmung. Der Künstler stellte sich<br />
persönlich vor. Alle tranken Wein und unterhielten sich über<br />
Kunst. Die Bilder - oder waren es Fotos? Daran konnte sich<br />
Sascha nicht mehr erinnern, nur dass sie deutlich die<br />
Homosexualität des Autors betonten. Es waren Schwänze,<br />
Hunderte von Schwänzen, die von allen Wänden freundlich<br />
winkten. Etwas angetrunken ließ sich Sascha auf ein<br />
mehrstündiges Gespräch mit dem Autor über Kunst ein,<br />
obwohl er als ausgebildeter Elektriker eigentlich keine Ahnung<br />
davon hatte. Vom Wein berauscht, interpretierte Sascha sogar<br />
einen Artikel aus dem Focus, eine Kulturbilanz des<br />
vergangenen Jahres, den er ausschnittweise beim Friseur<br />
gelesen hatte. Der Künstler hörte ihm aufmerksam zu und sagte<br />
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