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Wladimir Kaminer Russendisko

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Das Mädchen mit der Maus im Kopf<br />

Viele Russen, die sich in den letzten Jahren im Prenzlauer Berg<br />

niederließen, kannte ich noch aus Moskau. Die meisten waren<br />

bildende Künstler, Musiker oder Dichter: Menschen ohne<br />

Entwicklung, die so genannte Zwischenschicht - ewig<br />

zwischen Hammer und Sichel, bereits etwas zerlumpt, aber<br />

immer noch gut drauf. Abends trafen wir uns oft bei dem einen<br />

oder anderen in der Küche und verbrachten die ganze Nacht<br />

mit Trinken und Geschichtenerzählen, wie in guten alten<br />

Zeiten. Alle hatten viel erlebt und wollten ihre Abenteuer<br />

unbedingt jemandem mitteilen. Nur Ilona, ein Mädchen aus<br />

Samarkand, erzählte nie etwas. Sie hatte im Saarland Asyl<br />

beantragt und pendelte zwischen Saarbrücken und Berlin, wo<br />

sie einem reichen Russen den Haushalt führte.<br />

Ilona hatte noch eine merkwürdige Angewohnheit: Sie nahm<br />

nie ihre Mütze ab. Ihre Haare trug sie ganz kurz, dazu eine<br />

hässliche Brille. Eine Frau vom Typ Trockenbrot. Sie kam<br />

ständig zu unseren Sitzungen, saß immer in einer Ecke und<br />

schwieg. Manchmal stand sie auch mitten im Gespräch auf und<br />

ging ins dunkle Nebenzimmer. Doch ihre Eigenheiten fielen<br />

nicht weiter auf, weil ohnehin alle am Tisch sich selbst und die<br />

anderen für leicht schräg hielten. Trotzdem fragte jeder neue<br />

Gast Ilona erst einmal, warum sie nie ihre Mütze abnahm. Sie<br />

gab auf diese Frage immer eine plausible Antwort, die keine<br />

weiteren Fragen nach sich zog. Irgendwann stellten wir<br />

allerdings fest, dass sie jedes Mal etwas anderes erzählte. Dem<br />

einen sagte sie, sie hätte einen Autounfall gehabt und am Kopf<br />

genäht werden müssen. Dem anderen, dass der Friseur ihr eine<br />

fürchterliche Frisur verpasst hätte. Nur der Maler Petrov wollte<br />

ihr nicht die Hand geben, solange sie ihre Mütze aufbehielt.<br />

Mit dem Mädchen stimme etwas nicht, meinte er. An dem<br />

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