Wladimir Kaminer Russendisko
Wladimir Kaminer Russendisko
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Mein kleiner Freund<br />
Die Liebe zu Fremdsprachen kann einem teuer zu stehen<br />
kommen. Mein Freund Klaus sitzt seit einem Monat in einem<br />
russischen Gefängnis, dabei wollte er eigentlich nur Russisch<br />
lernen. In Berlin hatte er immer die »Deutsche Welle« gehört,<br />
und zwar die Sendung »Russischunterricht für Kinder von fünf<br />
bis zehn«. Zweimal die Woche, ein ganzes Jahr lang. Das<br />
Ergebnis war, dass er jeden Satz mit »Und jetzt, mein kleiner<br />
Freund ...« begann. Nicht einmal im Kindergarten wäre er<br />
damit durchgekommen. Klaus brauchte dringend einen<br />
russischen Gesprächspartner. Ich hatte keine Zeit und empfahl<br />
ihm, eine Annonce in Tip und Zitty aufzugeben - »Vermiete<br />
kurzfristig Bett an russische Emigranten« oder etwas<br />
Ähnliches. Schon bald meldete sich der erste Russe bei ihm,<br />
Sergej. Er war vor einem Jahr im Rahmen eines<br />
Künstleraustauschprogramms nach Deutschland gekommen.<br />
Sechs Monate lang hatte er zeitgenössische russische Kunst im<br />
Künstlerhaus Bethanien präsentiert.<br />
Dann war das Programm zu Ende. Sergej wollte jedoch Berlin<br />
nicht wieder verlassen und entschied sich, illegal hier zu<br />
bleiben. Tagsüber schuftete er auf einer Baustelle, abends<br />
frönte er seiner Leidenschaft, in der Lebensmittelabteilung des<br />
KaDeWe Weinbergschnecken zu verputzen. Dafür ging fast<br />
sein ganzes Geld drauf. Zuerst wohnte Sergej in einem der<br />
besetzten Häuser in Friedrichshain. Als die Polizei das Haus<br />
räumte, konnte er im letzten Moment entkommen. Klaus stellte<br />
dann für ihn ein Bett in die Ecke seiner Einzimmerwohnung.<br />
»Und jetzt, mein kleiner Freund«, maulte er jeden Tag, »musst<br />
du mir helfen, meine Russischkenntnisse zu verbessern.« Doch<br />
so richtig klappte das nicht. Zu unterschiedlich waren beide, zu<br />
klein die Wohnung. Klaus, ein überzeugter Vegetarier, musste<br />
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