072 HEUTEschüttelt nur <strong>de</strong>n Kopf: So eine Zunge müsse schon ein paarStun<strong>de</strong>n im Sud köcheln, und das ginge auf <strong>de</strong>m Festivalbeim besten Willen nicht. Wir wür<strong>de</strong>n doch nicht wollen,dass Damon Albarn nichts zu essen bekäme. Damon who?Ach, egal: Hauptsache, die Zunge sieht gut aus.Die Band hat merklich Hunger. Knapp zweieinhalb Stun<strong>de</strong>nvor <strong>de</strong>m Auftritt wür<strong>de</strong>n sie eigentlich nicht so vielessen, geben alle schmatzend zu Protokoll, aber das hiersei ein guter Grund für eine Ausnahme. Der große Momentvon John Stanier ist gekommen: Während das Fett schonaus <strong>de</strong>r Pfanne spritzt, wirft er die Würste hinein, begleitetvom Gegröle seiner Bandkollegen, die es kaum erwartenkönnen, die Lieblingswürste ihres Schlagzeugers, <strong>de</strong>r diehalbe Tour von nichts an<strong>de</strong>rem gesprochen hat, endlich zuprobieren. Der Konsens: super lecker und seinen Umzugnach Berlin mehr als rechtfertigend.Am En<strong>de</strong> ihrer Touraktivitäten sind die vier froh, nochmal ein kulinarisches Highlight zu erleben. In Englandhingegen, wo in <strong>de</strong>n Wochen zuvor diverse Festivals angestan<strong>de</strong>nhatten, hätten sie nochmals die Abgrün<strong>de</strong> auskostendürfen: »Auf Festivals wie Leeds und Reading geht esnicht um kulinarische Momente, son<strong>de</strong>rn um das Füllen<strong>de</strong>r Leute«, gibt Mike Patton zu verstehen. Aber das seiman gewohnt. »Heute kann man, wenn man etwas Geldhat und recherchiert, wenigstens etwas hinbekommen.Vor 25 Jahren gab es schlichtweg keine Optionen.« DasStichwort für Stanier, <strong>de</strong>r einwirft, dass es vor 25 Jahren inEngland noch nicht einmal Kaffee gegeben hätte. Dass esBlutwurstDie in Deutschland servierteBlutwurst wird aus Schweineblut,Schwarte und Speckunter Hinzufügung vonSalz, Pfeffer und Thymian,manchmal auch Ingwerund Majoran, hergestellt.Im warmen Zustand ist dieBlutwurst zähflüssig, imkalten schnittfähig. Blutwürstesind in vielen internationalenKüchen bekannt.Beispielsweise in Portugalals Morcela, in Spanien alsMorcilla <strong>de</strong> Burgos, in Irlandals Drisheen, in Finnland alsMustamakkara.Damon Albarn1968 geborener Sänger <strong>de</strong>rBand Blur, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n letztenJahren auch mit <strong>de</strong>r Comic-Art-Band Gorillaz und <strong>de</strong>mAll-Star-Projekt The Good,The Bad & The Queen (an<strong>de</strong>r Seite von Tony Allen,Paul Simonon und SimonTong) Erfolge feiern konnte.Albarn ist Vegetarier undgilt als schwierig.<strong>de</strong>n Wein, da Patton an diesen beson<strong>de</strong>rs hohe Ansprüchestellen wür<strong>de</strong> – und zeigt sich mehr als zufrie<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>mauch seitens <strong>de</strong>r Gastgeber so ist. Beim zweiten Anliegenhingegen bleibt er sehr bestimmt: Nein, im Künstler-Catering-Bereich<strong>de</strong>s Festivals könnten wir nicht essen. Dennauch wenn das keiner glauben wolle, aber da habe Pattonlei<strong>de</strong>r keine Sekun<strong>de</strong> Ruhe. Die wür<strong>de</strong>n alle immer Bil<strong>de</strong>rmit ihm machen wollen o<strong>de</strong>r, noch schlimmer, Small Talk.Auch gut, dann bereiten wir die angedachten Blutwürste unddie Rin<strong>de</strong>rzunge eben nicht nur in <strong>de</strong>r Küche zu, son<strong>de</strong>rnessen sie auch noch in selbiger.Womit <strong>de</strong>r Zeitpunkt für <strong>de</strong>n Auftritt von Mike Pattongekommen ist. Leicht gestresst wirkt er. Wenn das Stalkingschon bei an<strong>de</strong>ren Künstlern anfängt, dann ist das nichtverwun<strong>de</strong>rlich. Es sei aber alles nicht so dramatisch, gibter zu verstehen. »Auf Tour zu sein ist ein permanenter Prozessfehlen<strong>de</strong>r Privatsphäre. Da wird man leicht territorialund baut ein Fort aus eigener Sprache, Insi<strong>de</strong>rwitzen undAbschottung um sich herum auf.«Das gesagt, steckt er seine Finger bereits in die Entenleber-und Wildschweinpasteten, die es wie auch geräuchertenFisch und Kartoffelsalat als kalte Beilagen zu <strong>de</strong>nBlutwürsten und <strong>de</strong>r Zunge geben soll. Verantwortlich fürdieses beson<strong>de</strong>re Menü ist John Stanier, <strong>de</strong>r sympathischeSchlagzeuger <strong>de</strong>r Band, <strong>de</strong>n man auch schon von Battles undseiner früheren Band Helmet kennen könnte. Seit nunmehrzwei Jahren lebt er mit seiner Partnerin in Berlin und hat eingroßes Faible für die traditionelle <strong>de</strong>utsche Küche entwickelt.Gemeinsam waren wir am Vormittag in einem gutbürgerlichenCharlottenburger Delikatessen-Supermarkt einkaufengewesen. Neben <strong>de</strong>m ur<strong>de</strong>utschen Klassiker Blutwürstehatte es ihm dabei vor allem die Rin<strong>de</strong>rzunge in <strong>de</strong>r Auslageangetan. Wie ein Kind vor <strong>de</strong>n Süßigkeiten wollte er nichtweitergehen, bevor wir die bestimmt dreißig Zentimeterlange und fünf Zentimeter breite Zunge eingekauft hatten.In <strong>de</strong>n Topf schafft sie es aber nicht. Küchenchef Bill Scholz
in Amerika damals nicht besser ausgesehen habe, wehrt ermit <strong>de</strong>m Verweis auf Starbucks ab. Tomahawk, eine Bandaus Kaffeejunkies, bricht daraufhin geschlossen in einenheftigen Lachanfall aus.Aber wer reibt sich noch an England, wenn die eigeneKüche am Touren<strong>de</strong> eh so nah liegt. Bassist Trevor Dunnerzählt, dass er immer am ersten Tag nach <strong>de</strong>r Tour Sushiessen gehe, ab <strong>de</strong>m zweiten Tag wer<strong>de</strong>n dann zu HauseSteaks mit Gemüse selbst zubereitet. Auch Patton, <strong>de</strong>r in SanFrancisco lebt, zieht es erst mal nicht mehr in Restaurants.»Meistens hole ich noch ein paar Tacos beim Mexikaner umdie Ecke«, erzählt er. »Dann schließe ich mich mit meinerFrau zu Hause ein, und wir kochen viel. Sie hat mir einigesbeigebracht. Früher war ich ein schrecklicher Koch.« Wenner dann wie<strong>de</strong>r sozial kompatibel sei, dann wür<strong>de</strong> er schonmal seinen Kumpel und Nachbarn Blixa Bargeld anrufen.Bei<strong>de</strong> hätten ein Faible für Sterne-Restaurants.Dann ist auch schon Zeit, sich vor <strong>de</strong>m Auftritt noch einbisschen zurückzuziehen. Während John Stanier sich zumSchluss zeigen lässt, wo im Tiefkühlhaus die Zunge liegt,damit er sie später in seine Berliner Wohnung überführenkann, um sie am nächsten Tag alleine zu brutzeln, nehmensich die an<strong>de</strong>ren drei <strong>de</strong>r Weinreste an. Versöhnt mit <strong>de</strong>mThema Touressen, verlassen sie die Großküche und schenkenuns aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> von Mike Patton noch warme Schlussworte:»Ihr habt euch einen Platz in unserer Welt verdient.Für das Essen hier wasche ich euch in Zukunft die Wäsche.«Später am Abend haben es Tomahawk nicht leicht: Zwarsind die Pet-Shop-Boys-Fans nicht zwingend auch die ihren,<strong>de</strong>nnoch ist es nicht <strong>de</strong>r beste Slot, <strong>de</strong>n man haben kann –gegen die bei<strong>de</strong>n kultivierten Englän<strong>de</strong>r und ihre Spektakel-Show auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Bühne anspielen zu müssen. Die vierlösen das Problem auf ihre Art: Sie spielen eine äußerst<strong>de</strong>konstruierte Version <strong>de</strong>s Pet-Shop-Boys-Hits »West EndGirls«. Danach gehört ihnen die Nacht.— Tomahawk »Oddfellows« (Ipecac / Soulfood / VÖ 01.02.13)GEWINNE JETZTDEINE TICKETS!PLACEBO LIVEZECHE ZOLLVEREIN ESSEN26. NOVE<strong>MB</strong>ER 2013WWW.TELEKOM-STREETGIGS.DEpowered by