086 MORGEN65daysofstatic»Wild Light«Superball / UniversalSog / Wucht / InstrumentalEs ist kaum zu glauben,aber <strong>de</strong>r Ti<strong>de</strong>nhub, <strong>de</strong>n65daysofstatic mit ihremso hochintensiven wie einzigartigenStil nun auchschon seit 2001 erzeugen,nimmt mit je<strong>de</strong>r Veröffentlichungan Wucht zu. Auch auf ihrem sechstenAlbum amalgamiert die Band aus Sheffield Postrock,Drone und Electronica zu einem an- undabschwellen<strong>de</strong>n, soghaften und hypnotischenInstrumentalsound, <strong>de</strong>r aufwühlt, ohne zubrüllen, und <strong>de</strong>ssen monumentale Erhabenheitkeinerlei Pomps bedarf. Bro<strong>de</strong>lnd, schabend undschleifend, bei allem Karst, bei aller elementarenMacht seltsam fragil, fin<strong>de</strong>n sich auch hier dietypischen 65daysofstatic-Strukturen und -Intervalle,wer<strong>de</strong>n sämtliche Kennwerte bedient.Trotz<strong>de</strong>m, und dies ist die wun<strong>de</strong>rsamste Leistung<strong>de</strong>s Quartetts, klingt nichts vorhersehbaro<strong>de</strong>r gar routiniert. Gewiss, es gibt Musiker,die ähnlich eindrucksvolle Geschichten ohneWorte erzählen. Aber es gibt mit 65daysofstaticnur eine Instrumentalband, die wirklich unverzichtbarist und <strong>de</strong>ren Verlust einer kulturellenKatastrophe gleichkäme.Ulf ImwieheBest Coast»Fa<strong>de</strong> Away«Jewel City / Kabel Label Services / Rough Tra<strong>de</strong>Noisy / Warmth / CaliforniaBethany Cosentino, dieeine Hälfte <strong>de</strong>s Duos BestCoast, sang auf ihremersten Album »Crazy ForYou« so schön herzergreifendund lei<strong>de</strong>nd: »Theother girl is not me / She’sprettier and skinnier / She has a college <strong>de</strong>gree/ I dropped out when I was 17« und gewann damitsofort das Herz <strong>de</strong>r Hipster-Musik-Bloggersowie die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Hipster-KetteUrban Outfitters, für die sie eine eigene Kollektionentwarf. Zusammen mit Kollege BobbBruno verfolgt Cosentino musikalisch weiterhindas Thema Liebes- und Lebensleid, geklei<strong>de</strong>t ineingängige Melodien und begleitet von lärmigenund surfigen Countrypop-Klängen, die manso ähnlich bereits von <strong>de</strong>n Vivian Girls kennt.<strong>Als</strong> Inspiration geben die Musiker nun wenigerniedliche Musiker wie die Country-Legen<strong>de</strong> PatsyCline an, die bei einem Flugzeugabsturz umsLeben kam. An<strong>de</strong>re Referenzpfeile werfen siezu<strong>de</strong>m auf My Bloody Valentines Lärmmelodienund Mazzy Star, die mit ihrem melancholischenCountrypop auch gera<strong>de</strong> ein Comeback-Albumherausgebracht haben.Kerstin KratochwillBirth Control»Two Eggs – Two Concerts«mig / SonyHardrock / Ewigkeit / ProvinzEs muss <strong>de</strong>r Zeitgeistnur noch einen winzigenSchluckauf tun, undHardrock ist wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rangemessene Sound <strong>de</strong>rJetztzeit. Mo<strong>de</strong>rne Smartphonessind mittlerweileso leistungsstark, dass sie beliebig lange Schlagzeugsolispeichern können, dank Telearbeithaben die Menschen heute so viel Freizeit,dass sie schon am frühen Nachmittag ein Live-Doppelalbum von Birth Control durchhörenkönnen. In Berlin sind Clapton und Hendrix jagera<strong>de</strong> das neue Ding in <strong>de</strong>r Schwabengastro.Die Zeit ist nah. »Two Eggs« versammelt »TwoConcerts« mittelschwerer zeitgeschichtlicherBe<strong>de</strong>utsamkeit: 1977 feierte Bassist Horst Stachelhaussein Debüt in <strong>de</strong>r Stadthalle Korbach,1983 spielten Birth Control in <strong>de</strong>r HamburgerFabrik, ehe sie nach Iserlohn, Brohl und BadZwischenahn weiterzogen. Das auf <strong>de</strong>n damaligenBühnen vorgenommene Geballer wirktaus heutiger Sicht omnipotent genug, um diejammervollen Deka<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Indie-Schwermutund <strong>de</strong>s Neofolk-Geschnarches für immer vergessenzu machen. Die nächsten Konzerte dieserniemals en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Tournee fin<strong>de</strong>n in Speyer,Ol<strong>de</strong>nburg und Bremen statt. Man wird nochviel hören von dieser Band.Boris FustBlack Hearted Brother»Stars Are Our Home«Sonic Cathedral / Al!veFuzz / Dunkel / Space-ShoegazeDass eine Band aus <strong>de</strong>rErbmasse von Mojave 3und Slowdive nicht nachBallermann klingt, überraschtnicht. Sollen an<strong>de</strong>reauf die Pauke hauen, BlackHearted Brother fin<strong>de</strong>nihr Glück in <strong>de</strong>r Finsternis. Mit somnambulerUnaufgeregtheit und viel Fuzz und Hall evoziertdie Band eine weite, leere Nacht, skizziertSuchbewegungen und Rufe in ein Dunkel, von<strong>de</strong>m man nie weiß, was darinnen wohnt undvielleicht erwacht. Angst? Vielleicht. Doch egal,was dort lauert, es kann nur besser sein als daskalte, graue, sich ins Unendliche <strong>de</strong>hnen<strong>de</strong> Jetzt,solange es nur Farbe hat und Formenreichtum.Zwischen Space Shoegaze und »Twin Peaks«-Vibes singen Black Hearted Brother ein Klageliedauf die Gewöhnlichkeit, die uns in unserenunbefriedigtsten Momenten gefangen nimmt,von <strong>de</strong>r wir uns jedoch zu gerne heimlich tröstenund domestizieren lassen. Wir müssen raus ausdiesem Ruheraum, aus <strong>de</strong>r Stasis, aus dieserelen<strong>de</strong>n Schwere! Black Hearted Brother weisenuns <strong>de</strong>n Weg. Ins Dunkel, sicher. Aber werweiß, vielleicht gibt es dort nie zuvor geseheneGestirne.Ulf ImwieheBon Homme »A Life Less Fancy«Motor / E<strong>de</strong>lElectropop / Däne / VernünftigElektronische Popmusikaus Dänemark hatmittlerweile Tradition:Trentemøller, When SaintsGo Machine, WhoMa<strong>de</strong>-Who und <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>ran<strong>de</strong>re Nachwuchs – dasist schon eine sehr lebendige Musikszene. An<strong>de</strong>rerseitsist vieles von <strong>de</strong>m, was diese Künstler zuletztherausgebracht haben, lei<strong>de</strong>r im Mittelmaßstecken geblieben. Und das zweite Soloalbumvon Tomas Høffding alias Bon Homme, sonstBassist von WhoMa<strong>de</strong>Who, macht da keineAusnahme. Das Album han<strong>de</strong>lt vom Erwachsenwer<strong>de</strong>n,davon, sein Ego zu überwin<strong>de</strong>nund Verantwortung zu übernehmen – und istdarüber ganz schön langweilig gewor<strong>de</strong>n. Einwenig düster hier, ein wenig poppig dort, undalles in Maßen und wohl geordnet. Dagegenkann man eigentlich nichts sagen, schließlichpegelt sich das Leben mit <strong>de</strong>n Jahren so ein – <strong>de</strong>rTitel ist da Programm –, aber letztlich möchteman das Album doch einmal kräftig schütteln,alles ein wenig durcheinan<strong>de</strong>rbringen und einpaar Emotionen herauspurzeln sehen. Die I<strong>de</strong>ensind da, das Können auch, lei<strong>de</strong>r nur hat sich <strong>de</strong>rgute Mann offensichtlich allzu sehr in seinemLeben eingerichtet. Scha<strong>de</strong> eigentlich.Henje RichterBooka Sha<strong>de</strong> »Eve«Embassy Of Music / Warner / VÖ 01.11.13House / Handwerk / EstablishmentFunktionale Housemusikist etwas sehr Schönes.Denn man kann dazu tanzen.Walter Merzinger undArno Kammermeier sindals Booka Sha<strong>de</strong> und alsProduzenten für an<strong>de</strong>reschon lange genug unterwegs, um zu wissen,wie man die Beats richtig baut und Tracksentwickelt und variiert. Zwar gab’s mit ihremfünften Album anfangs ein paar kreative Probleme,diese ließen sich aber in Manchesterlösen, nämlich in <strong>de</strong>n Eve-Studios, daher auch<strong>de</strong>r Titel. Doch man hört die Mühe nicht, sollman ja auch nicht, ist schließlich Unterhaltung.Da sind wir dann auch schon am Knackpunkt,<strong>de</strong>nn die Innovationskraft und <strong>de</strong>r künstlerischeAusdruck halten sich doch arg in Grenzen. AberBooka Sha<strong>de</strong> haben ja auch nieman<strong>de</strong>m mehrwas zu beweisen. Schon länger im Establishmentangekommen, wird letztlich eine weitereüberzeugen<strong>de</strong> Platte mit lauter Kollaborationen– Fritz Kalkbrenner, Azari & III und Andy Cato
MORGEN 087Die Wahrheit #28Nirgendwo wird die Wahrheitmehr zurecht gebogenals im Musikjournalismus.<strong>Intro</strong> übersetzt typischePhrasen ins wirklichGemeinte.gesagt»Echt stark, dass auch eineso coole und angesagteBand dieses Jahr einWeihnachtsalbum vorlegt.«gemeint»Ex-cool und ehemals angesagtab jetzt, versteht sich …«(Groove Armada) – abgeliert, die Beine zumTanzen und Köpfe zum Nicken bringen wird.Nicht mehr, aber auch nicht weniger.Henje RichterChase And Status»Brand New Machine«Virgin / UniversalRave / Disco / ChartsDas letzte Album hatte inpuncto Sound und prominentemFeaturing so einigesweggeblasen. Selbstin Deutschland waren dieumtriebigen Englän<strong>de</strong>rzu hören, auch wenn <strong>de</strong>rPogo-Electro-Pop-Rap hier sonst keine so großeSache darstellt wie auf <strong>de</strong>r feierwilligen Insel.Dennoch spielte das Duo vor etlichen Jahrenbeim Melt!-Sonntag auf einer Strandbühnegegen <strong>de</strong>n Headliner Pulp an. Und ohne aufJarvis Cockers Aura pissen zu wollen, ChaseAnd Status gelang es, die Britpop-Ikonen lockerin die Tasche zu stecken. Mehr Leute, mehrStimmung. Punkt. Nun also <strong>de</strong>r Nachfolger <strong>de</strong>sDurchbruch-Albums, und man merkt soforteine neue El<strong>de</strong>r-Statesman-Attitü<strong>de</strong>. Anstelle<strong>de</strong>s fast schon punkig wahnsinnigen Stilmixes<strong>de</strong>s Vorgängers wusste man diesmal offenbargenau, welchen Sound und welchen Style manbedienen wollte: mehr Song, mehr R’n’B, mehrchartstaugliche Nummer, weniger Gebollere.Heraus kam so eine Mischung aus (britischem)Rave, mo<strong>de</strong>rnen Sounds und schwarzer Disco.An einigen Stellen ist es vielleicht zu cheesy, zusehr Snap!s »The Power« – aber wer in die Breitegehen will, darf da keine Berührungsängstehaben. Und solche sind <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n einfachkomplett fremd.Linus VolkmannCheatahs»Exten<strong>de</strong>d Plays – EP Collection«Wichita / Rough Tra<strong>de</strong>Multikulti / Noisy / ShoegazeDas Release <strong>de</strong>r ersten bei<strong>de</strong>nEPs von Cheatahs überWichita Records dürfteeine <strong>de</strong>r ersten schönenmusikalischen Überraschungen<strong>de</strong>s Frühjahrs2013 sein. Die Band um<strong>de</strong>n charismatischen Kanadier Nathan Hewittund <strong>de</strong>n Dresdner Drummer Marc Raue kannman ganz ungeniert als <strong>de</strong>n hoffnungsvollstenVertreter <strong>de</strong>s Indierock 2013 bezeichnen. Völliglosgelöst vom zeitgeistigen gefühlsduseligenBefindlichkeitspop, <strong>de</strong>r allenthalben immernoch grassiert, besinnt sich das in London logieren<strong>de</strong>internationale Quartett (ein Kanadier,ein Amerikaner, ein Englän<strong>de</strong>r und einDresdner) auf die Wurzeln <strong>de</strong>ssen, was in <strong>de</strong>nfrühen 90ern druckvollen, von Grunge undShoegaze beeinflussten Gitarrenrock ausmachte– ohne dabei zu sehr in die Retro-Falle zutappen. Swervedriver, The Posies o<strong>de</strong>r auchDinosaur Jr lassen per Post zwar grüßen, dochselten hat eine Band so charmant und gekonnt<strong>de</strong>n Bogen von Nirvana zu My Bloody Valentinegeschlagen wie Cheatahs. Wem nach <strong>de</strong>r ganzenWeichspülung <strong>de</strong>s Indiepop mal wie<strong>de</strong>r nachwirklich gutem noisy Gitarrenrock gelüstet,dürfte in <strong>de</strong>n Cheatahs <strong>de</strong>finitiv neue Hel<strong>de</strong>nfin<strong>de</strong>n. »Exten<strong>de</strong>d Plays« ist dabei nur <strong>de</strong>r Appetizer,das von Gil Norton (Pixies, Radiohead,Foo Fighters) produzierte Debütalbum erscheintin diesem Sommer.Benedikt RuessCrystal Antlers»Nothing Is Real«Innovative Leisure / Al!veAnachronismus / Psych / NoiseZugegeben: Die Beziehungvon <strong>Intro</strong> zu <strong>de</strong>n Touch-And-Go-Stylern CrystalAntlers ist arg strapaziert.Ihr Debüt wur<strong>de</strong> als Testosteron-unterfüttertes»Schweiß- und Muskelmonstrum«abgestraft, das am besten im Bikertreffaufgehoben sei. Das war 2009. Seit<strong>de</strong>mist eine Menge Wasser <strong>de</strong>n Rhein hinuntergeflossen.Will sagen: Die Jungs haben einezweite Chance verdient. Bereits 2011 befreitensie sich mit <strong>de</strong>m Longlayer »Two-Way Mirror«aus <strong>de</strong>r Muckerfalle. Die Pole kreisten statt<strong>de</strong>ssenvielmehr um Psyche<strong>de</strong>lic, Lo-Fi und Noise.»Nothing Is Real« führt diesen Weg sukzessivefort. Es scheint, als hätten die Wahlkalifornieraufgehört, ihre durchaus hörenswerten Songsfür Classic-Rock- und Heimorgel-Liebhaberzu komponieren. Vorbei ist die Tyrannei <strong>de</strong>rerbärmlichen Muckergesten. Was bleibt, ist <strong>de</strong>rHang zum Anachronistischen: die Liebe zumdüsteren Psyche<strong>de</strong>lic Rock <strong>de</strong>r 70er und zumNoise-Rock/Pop <strong>de</strong>r 90er. Das klingt erst malverspult, macht aber auf Albumlänge aufgrund<strong>de</strong>r mäßig eingestreuten kontrollierten Sprengungenrichtig Bock. Antesten! Lieb haben!Holger WendtDan Le Sac vs. Scroobius Pip»Repent Replenish Repeat«Sunday Best / Pias / Rough Tra<strong>de</strong>Diskrepanz / Glitch / GrimeWährend das britischeHipHop/Grime-Duo DanLe Sac vs. Scroobius Pipproduktionstechnisch vonAnfang an seiner Zeit vorauswar, krankte das Gesamtbilddoch immer einwenig an <strong>de</strong>m Potenzial von MC David Meadsalias Scroobius Pip. Denn wann immer ProduzentDan Le Sac an <strong>de</strong>n Reglern recht versiertdie Takte auseinan<strong>de</strong>rnahm und wie<strong>de</strong>r zuetwas zusammensteckte, was die meisten wohlGlitch-Hop nennen wür<strong>de</strong>n, hinkten Meads’eher schmalbrüstig vorgetragenen Zeilen trotzeinwandfreier Technik und inhaltlicher Raffinessestets ein wenig hinterher. Auch »RepentReplenish Repeat« lei<strong>de</strong>t an dieser Diskrepanz,die sich ein wenig anfühlt, als wür<strong>de</strong> man aufeinem hochgerüsteten »Alienware«-PC (sieheSheldon Coopers Ausstattung in »Big BangTheory«) lediglich »Minesweeper« spielen.Philip FassingSpektakelKevin Devine »Bulldozer«& »Bubblegum«Big Scary Monsters / Al!veEmo / Indie / IsobelDie Älteren wer<strong>de</strong>n sich erinnern: Vor inzwischenfast 15 Jahren war Kevin Devine Sängerund Mastermind <strong>de</strong>r großartigen 90er-Emo-Band Miracle Of 86. Es folgten diverse Soloalbenund die Entwicklung hin zum folkigenSinger/Songwriter, auch wenn Devine – imGegensatz zu an<strong>de</strong>ren Vertretern <strong>de</strong>s Genres –seine musikalischen Wurzeln stets im hörbaren