102 MorgenHÖRBUCHBenni-Mama»GroSSe Ärsche aufkleinen Stühlen«ArgonEin die konkrete Autorinnenschaftverwischen<strong>de</strong>sPseudonymist selten ein gutes Zeichen.Es weist vielmehr auf »lustigen«Auftragsdreck für eine ö<strong>de</strong>Lifestyle-Nische hin. An dieser Stellegreift dieser Diss aber zu kurz,<strong>de</strong>nn die Beschreibungen aus <strong>de</strong>mSchlachtfeld Kin<strong>de</strong>rbetreuung stellenzwar Brigitte-Leserinnen-Bubblegumdar, besitzen aber gleichermaßenSubstanz und echten Witz.Wer nach diesem Hörbuch nochglaubt, sein Kind einfach beizeitenin die KiTa seiner Wahl stecken zukönnen, muss verrückt sein. Strukturellerund individueller Sexismuswer<strong>de</strong>n hier pointiert, aber messerscharfseziert. Und die humorighysterische Grundhaltung von MirjaBoes als Sprecherin passt perfekt.Linus VolkmannGrimm »Es war einmalund wenn sie nicht«Fressmann / IndigoDer Hamburger SongwriterWolfgang Müllerhat dank Startnext-Finanzierung<strong>de</strong>nvielleicht schönsten Beitrag zumGrimm-Jahr 2013 auf <strong>de</strong>n Marktplatzgeschoben. Ummantelt voneinem bezaubern<strong>de</strong>n Artwork undunterbrochen von entrückten Improvisationen<strong>de</strong>s ehemaligen Fink-Gitarristen Dinesh Ketelsen, legensich 17 Märchen zu einem ins Bett.Vorgetragen wer<strong>de</strong>n sie von Singer/Songwritern, <strong>de</strong>n Grimms nachfolgen<strong>de</strong>nGeschichtenerzählern.Zum smarten Move, Tom Liwa(»Dornröschen«) beginnen zulassen, darf man gratulieren. <strong>Als</strong>mehrfacher Vater ist er ein nichtnur Studio-, son<strong>de</strong>rn auch Kin<strong>de</strong>rzimmer-gestählterVorleser, <strong>de</strong>mdas Reüssieren auf frem<strong>de</strong>m Terrainein Leichtes ist. Dass <strong>de</strong>r Wegvom Song-Schreiben zum Märchen-Erzählenein holpriger seinkann, beweist hingegen <strong>de</strong>r eineo<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r honorigen Protagonisten(Olli Schulz mit »Rapunzel«,Thees Uhlmann mit »Der Wolf unddie sieben Geißlein«, Gisbert zuKnyphausen mit »Der Froschkönig«etc.). Wer von ihnen, sei unter<strong>de</strong>r Decke <strong>de</strong>r Sympathie, diedieses Projekt beschwert, geheimgehalten.Marco FuchsKirsten Ellerbrake»Guten Morgen,Revolution – Du bist zufrüh«Random HouseGelesen von Katja Riemann.Katja Riemann,ja, genau das divaeskeMonster <strong>de</strong>s neuen<strong>de</strong>utschen Films <strong>de</strong>r Generation»Der bewegte Mann«. Fluchtreflexe!Doch man muss sie hierfürdann doch feiern. Riemann erwecktdie Ex-Anti-AKW-AktivistinNora amtlich zum Leben. Letzterehat ihren Protest mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong><strong>de</strong>r 80er-Jahre eingestellt, sieht sichaber plötzlich wie<strong>de</strong>r damit konfrontiert,da die Tochter bei einerCastor-Blocka<strong>de</strong> im Wendland festgenommenwird. Neuer und alterWi<strong>de</strong>rstand gegen Atomstrom vor<strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r Verbürgerlichungim Alter und eines rührigenGenerations-Clashs. Das Finaleliefert zu<strong>de</strong>m sehr zeitgemäßdann Fukushima. Eine harmlose,aber pointiert und gut gemeintewie gemachte Story und eine tolleSprecherinnenleistung.Linus VolkmannTorsten Gellrich»Die Schläfer:Unheimliches Erwachenin <strong>de</strong>r Antarktis«Vitaphon150-Minuten-Hörspielum die Forschereiner abgeschie<strong>de</strong>nenAntarktis-Station, diedurch Bohrungen ungewollt dasBöse in die Welt entlassen. Liebevollgemachtes, zunächst bedächtigesWerk, das Isolationsbeklemmungund Figurenschicksaleausrollt, bevor das Unerklärlichemit harter Terrorhand regiert – undinnerhalb <strong>de</strong>r mit wissenschaftlichenDiskursen durchzogenenGeschichte sogar erschreckendplausibel hergeleitet wird. Gera<strong>de</strong>das macht die beson<strong>de</strong>re Leistung<strong>de</strong>s Hörspiels aus: an keinerStelle zugunsten von Dramaturgieund Knalleffekt die Rationalitätaus <strong>de</strong>n Augen zu verlieren. AmEn<strong>de</strong> bekommt <strong>de</strong>r Hörer fast einbisschen Angst vor <strong>de</strong>r Antarktis.»Terra X« trifft »Alien« trifft »CabinFever«. Wirklich hörenswert.Felix ScharlauHelene Hegemann»Jage zwei Tiger«Hörbuch Hamburg / VÖ 13.09.13Keine Ahnung, wie dieStimme von Jungautoren-SuperschlauHeleneHegemann in Wirklichkeitklingt, doch anhand <strong>de</strong>sfast bis zur Hälfte geschafften Debütromas»Axolotl Roadkill« habeich eine konkrete Vorstellung: angepisst,aggro, kratzig, nervig. UndGlückwunsch, Birgit Minichmayr,die Hegemanns Zweitling hier eingelesenpräsentiert, erfüllt genaudiese Assoziationen. <strong>Als</strong>o in <strong>de</strong>rDarreichung sehr authentisch,passt perfekt – bloß anhören, ja,bloß anhören kann man sich dasnicht. Denn je<strong>de</strong>m kantigen Satznoch die Verachtung für alle Erwähnteneinzuätzen, das ist aufStrecke schlichtweg nicht zu ertragen.Der Text hinter <strong>de</strong>r allesnie<strong>de</strong>rpanzern<strong>de</strong>n Attitü<strong>de</strong> vonSchreib- und Lesestil wirkt dabeietwas erträglicher als bei »Axolotl«,aber ob dieser Eindruck tatsächlichrichtig ist ... Ich wer<strong>de</strong> es nie erfahren,<strong>de</strong>nn ich habe meine Lebenszeitauch nicht gestohlen.Linus VolkmannTom König»Kündige, wenn du esschaffst / Gelesen vonChristoph Maria Herbst«Audio Media VerlagDer leidlich elaborierteWutbürger hat eineweitere Abspielstationfür seinen gerechtenZorn bekommen. Zehn Cent insPhrasenschwein, wenn das Wort»Servicewüste« fällt, und man wärehier ein gemachter Mann. Die fiktionaleFigur Tom König (wegen »KönigKun<strong>de</strong>«, Schenkelklopfer!) aus<strong>de</strong>m Spiegel-Empire durchlebt stellvertretendfür die breite Zielgruppenoch mal Warteschleifen undAbo-Fallen. Der schnippische, besserwisserischeTonfall <strong>de</strong>r Glossenwird im Vortrag von Christoph MariaHerbst so übererfüllt, dass manfast schon auf Seiten <strong>de</strong>r Telekomund <strong>de</strong>r Banken ist. Auf Seiten <strong>de</strong>rTelekom! Und <strong>de</strong>r Banken! Mussman sich mal vorstellen!Linus VolkmannVal McDermid»Abgeblasen«Lübbe AudioIn Deutschland wur<strong>de</strong>die schottische AutorinVal McDermidspätestens mit ihrerTony-Hill-Krimireihe bekannt.Hier kommt eine frühere Figur, diePrivatermittlerin Kate Brannigan,zum Einsatz. In ihrem ersten Fall(veröffentlicht 1991 als »Dead Beat«)geht es durch Manchesters Popszene.Beleuchtet wird die Entourageeines frustrierten Stars, <strong>de</strong>ssen alteMuse Brannigan in <strong>de</strong>r Gosse aufstöbernsoll. Das 4-CD-Hörbuchunterhält mitunter, spätestens natürlich,wenn das Stichwort »Hacienda«fällt. Mord inklusive. MancheDialoge wirken aber bisweilenweit von <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>ren Milieuentfernt, das die Autorin hier untereinem Brennglas abgebil<strong>de</strong>t sieht.Trotz<strong>de</strong>m: schönes Herbsthörbuch.Felix ScharlauJonas Jonasson»Der Hun<strong>de</strong>rtjährige,<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Fensterstieg und verschwand«hr1 / <strong>de</strong>r Hörverlag / VÖ 10.06.13Allan Karlsson wirdhun<strong>de</strong>rt. Auf die anstehen<strong>de</strong>Party hat<strong>de</strong>r trinkfreudigeGreis allerdings keine Lust, weshalber aus <strong>de</strong>m Altenheim türmt,einen Koffer mit Drogengeld mopstund die schwedische Presse und Polizeiauf Trab hält. Das ist alles abernur halb so originell und lustig, wiedas Buhei um dieses Buch einenglauben machen kann. Kostprobe:Ein Elefant sitzt einen Rocker platt.Ja, so crazy geht es hier zu ... Wasdie Hörspielfassung rettet, ist dieabwechslungsreiche Inszenierungdurch Regisseur Leonhard Koppelmann,<strong>de</strong>r die Rückblen<strong>de</strong>n mit O-Tönen und Projektorrattern wiealte Wochenschauen klingen lässtund <strong>de</strong>n Krimiteil mit Radionachrichtenund Zeitungsschlagzeilengarniert. Mehr als die gekonnteUmsetzung eines maßlos überschätztenUnterhaltungsromanskommt aber trotz<strong>de</strong>m nicht rum.Moritz Honert
Morgen 103Wie<strong>de</strong>rGänGerAmen81»X The Hit Pit X«Twisted Chords / Broken SilenceEndlich eine Neuauflage<strong>de</strong>r legendärenVinyl-only-Platte <strong>de</strong>rfränkischen Hard- bisCrustcore-Kultband. Kaum ein Albumprägte zum Jahrtausendwechselso sehr die Szene <strong>de</strong>r sogenanntenAnti<strong>de</strong>utschen. Ein Fanal inkurzen restmelodiösen Knallern –mit bis heute kontroversen Textengegen das Palituch und für »BomberHarris«, <strong>de</strong>r sinnbildlich für diealliierte Bombardierung Dres<strong>de</strong>nsim Zweiten Weltkrieg steht. Wucht,Hass und Energie – selten greifbarerals auf diesem Album.Cabaret Voltaire»Red Mecca«Mute / GoodToGoKomplett remasteredwird nun auch dasdritte Album <strong>de</strong>r legendärenCabaret Voltaireeiner neuen Generation (beziehungsweise<strong>de</strong>m ergrauten Plattensammler)zur Verfügung gestellt.Nervöse Rhythmen, industrielleSounds, giftige Texte gegen Thatcherund Co. – »Red Mecca« warwohl das letzte große Album <strong>de</strong>rBand, bevor <strong>de</strong>r Auflösungsprozessund Stilwechsel Einzug hielten.Damon»Songs Of A Gypsy«Now Again / Groove Attack / VÖ 15.11.13SpekulationsobjektPlatte. Bevor die digitaleVerfügbarkeit dasWertesystem <strong>de</strong>r Musikindustrieauf <strong>de</strong>n Kopf stellte,war je<strong>de</strong>m klar: Wer die richtigeOriginalpressung von anno dazumalhatte (am besten in Mint-Condition),<strong>de</strong>r ist ein reicher Mann.Diese Zuschreibung hat sich wegenschmalerem Markt und ebenMP3s gewan<strong>de</strong>lt. So jemand istheute vornehmlich ein ziemlicherNerd. Denn nur ganz wenige Artist-Albenbefin<strong>de</strong>n sich wirklichnoch auf <strong>de</strong>m Niveau <strong>de</strong>r BlauenMauritius. Dazu gehörte in je<strong>de</strong>mFall das Werk <strong>de</strong>s geheimnisvollenKünstlers Damon aus Denver inColorado, <strong>de</strong>ssen wahre I<strong>de</strong>ntitätimmer wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Musiker DavidDelConte verweist. Nun soll mitHöchstbeträgen auf eBay, die für»Songs Of A Gypsy« bereits gezahltwur<strong>de</strong>n, Schluss sein. Die längstfällige exten<strong>de</strong>d Doppelalbum-Neuveröffentlichung <strong>de</strong>s Kultszwischen Weltmusik, Country undFolk ist wie<strong>de</strong>r verfügbar und stößtdarauf, dass hinter <strong>de</strong>m Sound eineähnlich spannen<strong>de</strong> Story liegt wiebei Sixto Rodriguez und <strong>de</strong>m Film»Searching For Sugar Man«.Bright Eyes»A Christmas Album«Saddle Creek / Cargo / VÖ 15.11.13Vorsicht Meinung:Kaum etwas ist wür<strong>de</strong>loserals diese saisonalenPlatten, mit <strong>de</strong>nenActs Zeit schin<strong>de</strong>n wollen fürsnächste reguläre Album und dabeinoch paar Euros abziehen. Ganzschlimm: das Weihnachtsalbum.Dennoch: <strong>Als</strong>o hey, die Nummerhier von Bright Eyes ist wirklichganz wertig. 2002 erschien es ursprünglichin limitierter Auflagezugunsten eines Aids-Projekts. »SilentNight« aus <strong>de</strong>m Verstärker vonConor Oberst? Überzeugend. Aber:Bitte nicht nachmachen!Grizzly Bear»Shields Expan<strong>de</strong>d«Warp / Rough Tra<strong>de</strong> / VÖ 08.11.13Letztes Jahr erschiendas viel gefeierte Album»Shields« vonGrizzly Bear, nun folgtbereits seine Wie<strong>de</strong>rauferstehungam Markt in Form einer Remix-Sammlung (Lindstrøm, NicolasJaar, Liars und an<strong>de</strong>re) inklusiveBonus-Tracks.Johnny Cash»I Shall Not Be Moved«Lost Kash / CargoZu Ehren <strong>de</strong>s zehntenTo<strong>de</strong>stags <strong>de</strong>s Mannesin Schwarz kanndieses Album wohlkaum erschienen sein. Han<strong>de</strong>lt essich bei <strong>de</strong>n »raren« Songs dochnur um verworfene Versionen <strong>de</strong>sFrühsechziger-Albums »HymnsFrom The Heart«. Das kann mannicht mal unter <strong>de</strong>m Deckmantel<strong>de</strong>r Nostalgie ertragen, das ist einfachLeichen fled<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Quark.Roky Erickson»The Evil One«& »Don’t Slan<strong>de</strong>r Me«& »Gremlins HavePictures«Light In The Attic / CargoZum fragwürdigen Anekdotenruhm<strong>de</strong>s genialenTexaners zähltja auch, dass seine diagnostizierteSchizophrenie in <strong>de</strong>nSechzigerjahren noch mittels Elektroschocks»therapiert« wur<strong>de</strong>. Vermutlichhat dieser Umstand abernichts mit seinem weir<strong>de</strong>n, psyche<strong>de</strong>lischenWerk zu tun. Das hätteer garantiert auch ohne diese Torturaufgerufen. Hier nun fin<strong>de</strong>nsich seine drei Achtzigerjahre-Albenneu aufgelegt – und im allgemeinenPsyche<strong>de</strong>lic-Hype (OktaLogue und Ähnliche) ist es ein Genuss,hier mal einen Pionier <strong>de</strong>r verrücktenGarage so markant in Erinnerunggerufen zu bekommen.Mehr »Wie<strong>de</strong>rgänger«gibt es unter intro.<strong>de</strong>/wie<strong>de</strong>rgaenger o<strong>de</strong>rhinter diesem QR-Co<strong>de</strong>