Der Giro d’Italia weckt Emotionen wie kein anderes Rennen. Um seinen tieferen Gehalt zu verstehen, hat <strong>Procycling</strong> mit Fahrern, Mitarbeitern und Journalisten gesprochen, die die Corsa Rosa besonders gut kennen. Text Sam Dansie © Kramon 52 PROCYCLING | MAI 2019
„NINO DEFILIPPIS TRINK- FLASCHE VOM GIRO WAR MEINE WERTVOLLSTE HABE“ „DER GIRO WAR EINE UNERWIDER- TE LIEBE“ BRUNO REVERBERI Eigentümer von Bardiani-CSF Brett Lancaster holt für Ceramica Panaria (heute Bardiani-CSF) 2005 eine Giro-Etappe. Der Giro, der mir Tränen in die Augen getrieben hat, war, als Brett Lancaster für uns den Prolog in Kalabrien 2005 gewonnen hat. Es war der erste Giro der ProTour-World- Tour-Ära, und alle haben vorhergesagt, dass er der Tod des Teams sein würde. Man darf nicht vergessen, dass ich 1982 bei meinem ersten Giro war, und keiner meiner Fahrer hatte je die Maglia Rosa getragen. Die Leute hatten Carmine Castellano, den Renndirektor, dafür kritisiert, dass er uns eingeladen hatte. Sie sagten, wir seien nicht konkurrenzfähig, aber das waren wir. Dann haben wir später mit Luca Mazzanti eine weitere Etappe gewonnen, und seitdem gewinnen wir – wir haben 28 Etappen des Giro d’Italia gewonnen, und das ist, wenn man darüber nachdenkt, eine ganz schöne Leistung. Der andere war der Giro 1959, als ich 16 war. Ich hatte den Radsport immer geliebt, aber ich hatte gerade begonnen, Rennen zu fahren, und war hingerissen. Die 3. Etappe ging von Salsomaggiore Terme nach Abetone und sie führte durch Reggio Emilia, meine Heimatstadt. In der Nähe war eine Verpflegungsstation, und ich weiß noch, wie ich dachte, dass ich ein paar Souvenirs abstauben kann, wenn ich dort hingehe. Ich hatte mich dort hingestellt in der Hoffnung, dass einer der Betreuer mir etwas geben würde oder dass einer der Champions etwas wegwerfen würde und ich Glück hätte. Nino Defilippis, der ein sehr großer Champion war, warf seine Trinkflasche weg, und ich schnappte sie mir und bin nach Hause und freute mich wie ein Schneekönig. Ich bin nach Hause und habe es allen erzählt, egal, ob sie es hören wollten oder nicht. Es war nur eine Trinkflasche, aber es war meine wertvollste Habe, weil sie mich mit Defilippis und dem Giro verband. Ich benutzte sie jedes Mal, wenn ich ein Rennen fuhr. CARMINE CASTELLANO Ehemaliger Giro-Direktor Meine bleibende Erinnerung an den Giro – und wahrscheinlich meine schönste Erinnerung – ist wohl 1949. Ich zwar zwölf Jahre alt und wuchs in Sorrent [an der Bucht von Neapel] auf, und wie alle anderen war ich verrückt nach Radsport. Wir hatten Coppi und Bartali, aber es gab keinen Fernseher, und das Rennen fand größtenteils im Norden statt. Bestenfalls konnte man hoffen, sie in der Wochenschau im Kino zu sehen, aber das dauerte nur zwei Minuten. Wie alle Kinder in der Schule wollte ich sie unbedingt in natura sehen, und ich träumte davon, dass sie eines Tages nach Sorrent kommen würden. Ich erinnere mich, wie ich darauf wartete, dass die Giro-Route vorgestellt wurde in der Hoffnung, sie sehen zu können, aber es war aussichtslos. Es gab eine Etappe von Salerno nach Neapel, aber das war an einem Donnerstag. Wir waren in der Schule. Es war diese unerwiderte Liebe, und je unmöglicher es schien, desto mehr schien die Liebe zu wachsen. Während des Giro stand ich morgens auf, rannte die Straße runter, um die Zeitungen zu kaufen. Ich las, so viel ich konnte, vor der Schule und ging dann los. In Wirklichkeit warteten meine Freunde und ich nur darauf, dass die Schule aus war. Um ein Uhr läutete die Glocke und ich rannte nach Hause, so schnell ich konnte. Die Radioübertragung begann nach den Nachrichten … Ich hörte zu, während ich zu Mittag saß, und hörte weiter bis zum Ende. Dann kamen die Abendzeitungen raus, und die verschlang ich genauso. © BettiniPhoto (Reverberi), Yuzuru Sunada (Castellano), Sirotti MAI 2019 | PROCYCLING 53