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Procycling 05.2019

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GIRONA<br />

Die Spanier haben ihr eigenes Wort für ausländische<br />

Touristen: guiri. Sie kennen den<br />

Typ. Mit einem großen Faltplan aus dem<br />

Touristenbüro, auf den mit blauem Kugelschreiber<br />

große Kreise aufgemalt sind, einer Sonnenbrille,<br />

die an einer Schnur um den Hals baumelt, kurzer<br />

Hose, Sandalen und Socken, laut schreiend, oft in<br />

Englisch. Oder sie starren auf ein Smartphone, als<br />

würde es gleich die Antwort auf das Leben, das<br />

Universum und alles liefern, ohne Rücksicht auf<br />

Verkehrsschilder, fahrende Autos und andere Formen<br />

nicht künstlicher Intelligenz. Guir ist ein<br />

freundlicher, nicht verächtlich gemeinter Ausdruck,<br />

aber er drückt doch aus, dass das Leben<br />

besser war, bevor sie kamen.<br />

Die Stadt Girona hat ihre eigene Art von guiri.<br />

Die gepflasterten Straßen des Barri Vell, des mittelalterlichen<br />

Stadtkerns, sind voller Trainingsjacken<br />

und Poloshirts – die Art, die heute niemand<br />

tragen würde, der nicht vertraglich dazu<br />

verpflichtet ist. Es gibt auch Steppjacken. Die teuren,<br />

nicht die billigen. Den Typ kennen Sie auch.<br />

Statt gezielt von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit<br />

zu marschieren, schlendern diese guiri<br />

halbwegs ziellos von einem Platz zum nächsten,<br />

um sich die müden Beine in den kühlen Gassen<br />

der kleinen katalanischen Stadt zu vertreten, die<br />

zu einem Epizentrum des Radsports in Europa<br />

geworden ist.<br />

Sie sind nicht wegen eines Rennens hier: Die<br />

Tour de France kam einmal 2009 und die Volta<br />

a Catalunya kommt von Zeit zu Zeit, aber die<br />

Stadt liegt nicht regelmäßig auf der Route. Der<br />

Grund, warum sie hier sind, ist aber sehr einfach<br />

und hat etwas damit zu tun: Girona ist ein großartiger<br />

Ort, um Fahrrad zu fahren.<br />

Es ist derselbe Grund, der auch viele Dutzende<br />

Radprofis nach Girona gelockt hat, das einen Eckpfeiler<br />

einer umherreisenden Gemeinschaft von<br />

Athleten und Mitarbeitern bildet, die mit dem<br />

Sport verbunden sind („angestellt“ ist ein zu starkes<br />

Wort für etwas so Unstetes und Flüchtiges<br />

wie den Profiradsport). Wie jede Gruppe von Immigranten<br />

in globalen Städten in aller Welt ist<br />

Girona eine Landezone. Fahrer aus Nord- und<br />

Südamerika, Australien, Asien und Nordeuropa<br />

wählen Girona als ihr erstes Zuhause auf dem<br />

europäischen Kontinent, bevor viele woanders<br />

hinziehen, insbesondere nach Andorra. Die häufigsten<br />

Auswanderersprachen sind Englisch,<br />

Holländisch und Skandinavisch. EF Education<br />

First, Mitchelton-Scott, Jumbo-Visma, Canyon-<br />

Sram, Sunweb, Katusha Alpecin und Israel<br />

Cycling Academy sind hier mit nennenswerten<br />

Zahlen vertreten, und es kommen versprengte<br />

Fahrer anderer Teams hinzu.<br />

Innerhalb von 15 Jahren sind sie von einer<br />

Handvoll Fahrern auf gut über 100 angewachsen.<br />

Bei allem Kommen und Gehen sind genaue Zahlen<br />

schwer zu bekommen. Es gab vorher schon<br />

Radsportler hier, aber einen Teil der Schuld für<br />

den Radsport-Boom in Girona kann man Lance<br />

Armstrong zuschreiben. Er zog im neuen Jahrtausend<br />

her, um den französischen Anti-Doping-<br />

Gesetzen nach dem Festina-Skandal zu entgehen,<br />

kaufte sich eine protzige Wohnung im Herzen der<br />

Altstadt, nahm seine Kabale von USPS-Kumpels<br />

mit, und damit fing es an. Eine beliebte Trainingsstrecke<br />

wird im Volksmund immer noch Hincapie-<br />

Schleife genannt.<br />

Doch wie immer hat es damit mehr auf sich als<br />

Lance – nicht zuletzt mit dem katalanischen Drang,<br />

im Nirgendwo endende Bergstraßen mit einem<br />

so seidenglatten Asphalt zu überziehen, dass er<br />

zwölf Jahre lang in einem Keller hätte reifen können,<br />

anscheinend zum alleinigen Nutzen ein paar<br />

alter Einheimischer, die mit ihrem klapprigen<br />

Suzuki Vitara durch die Gegend fahren, und zur<br />

unbeabsichtigten Freude von Radsportlern. Man<br />

könnte argumentieren, dass das Auftauchen von<br />

Profis hier Hand in Hand ging mit der Umstellung<br />

auf hochstrukturierte, auf Wattmessgeräte gestützte<br />

Trainingspläne im gesamten Sport. Ein<br />

Anstieg in das kleine Dorf Sant Martí Sacalm,<br />

typisch für die gleichmäßigen Bergstraßen in den<br />

östlichen Vorpyrenäen, ist die Strecke schlechthin,<br />

um sich auszupowern. Ein früherer Fahrer, der dort<br />

während seiner Karriere mehrmals die Woche fuhr,<br />

gab zu, es nur ein paarmal bis oben geschafft zu<br />

haben. Er trainierte einfach weiter unten am Berg,<br />

fuhr rauf und runter und dann nach Hause.<br />

Profi zu sein bedeutet auch nicht mehr, sich<br />

an der belgischen Schule des Radsports einzuschreiben,<br />

die junge Fahrer an die Wand wirft in<br />

der vagen Hoffnung, dass einige von ihnen kleben<br />

bleiben. Aufstrebende Profis finden das sehr attraktiv:<br />

Man kann zu einer sonnigen Fahrt aufbrechen<br />

und dann in einem Café herumhängen<br />

wie ein Student. Wer wollte ihnen das verübeln?<br />

Wir reden nicht über Zehntausende Teenager,<br />

und es gibt keine Jack-Wills-Kapuzenshirts, fettige<br />

Döner oder Wodka-Dienstage. Aber es gibt<br />

auf jeden Fall genug Cafés, wo man hingehen<br />

kann, um übereinander zu lästern und zu versuchen,<br />

nicht in seinem Cappuccino zu versinken,<br />

während man am seichten Ende der wirklichen<br />

Welt herumpaddelt.<br />

Es sind genug Radsportleute, damit es sich wie<br />

eine kleine Gemeinschaft anfühlt, mit einem anheimelnden<br />

Gefühl von Vertrautheit und Gebor­<br />

ES GIBT GENUG CAFÉS, WO MAN HINGEHEN KANN, UM<br />

ÜBEREINANDER ZU LÄSTERN UND ZU VERSUCHEN, NICHT IN<br />

SEINEM CAPPUCCINO ZU VERSINKEN, WÄHREND MAN AM<br />

SEICHTEN ENDE DER WIRKLICHEN WELT HERUMPADDELT.<br />

Das Trikot von Jumbo-Visma ist ein typischer<br />

Anblick auf den Straßen rund um die Stadt.<br />

74 PROCYCLING | MAI 2019

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