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Procycling 05.2019

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DIE BERGE DES GIRO<br />

ETAPPE<br />

16<br />

MORTIROLO<br />

LÄNGE: 12,8 KM /<br />

Ø-STEIGUNG: 10,1 %<br />

ETAPPE<br />

P A S S O D I<br />

GAVIA<br />

LÄNGE: 16,7 KM /<br />

Ø-STEIGUNG: 8 %<br />

16<br />

Egal, wie oft der Giro hier war – der<br />

Passo di Gavia wird immer mit<br />

dem Jahr 1988 verbunden bleiben.<br />

Am 5. Juni holte Andy Hampsten das<br />

Rosa Trikot in Bormio nach einem Ritt im<br />

Schneesturm über den Gavia, der in die<br />

Legenden des Giro einging. Erik Breukink<br />

gewann die Etappe, aber es ist Hampstens<br />

Großtat, die in Erinnerung bleibt.<br />

Das bleibende Bild des Tages ist das des<br />

Amerikaners, Trikot und Skimütze mit<br />

Schnee bedeckt, wie er den Gipfel mit<br />

Neoprenhandschuhen und großer Brille<br />

erklimmt. Seine Kluft hatte ebenso viel<br />

mit Edmund Hillary gemein wie mit<br />

Fausto Coppi. Ein unvergesslicher Tag …<br />

Der Gavia ist 2.618 Meter hoch, und<br />

während diese extreme Höhe ihn meistens<br />

zur Cima Coppi macht, zum höchsten<br />

Punkt des Giro, bedeutet das<br />

manchmal auch, dass er gar nicht vorkommt.<br />

2013 wurde eine Etappe über<br />

den Gavia und das Stilfser Joch ins Martelltal<br />

wegen Schneefalls abgesagt, obwohl<br />

die Bedingungen kaum besser waren,<br />

als die Route zwölf Monate später<br />

in Angriff genommen wurde und für<br />

viel Polemik sorgte. Jetzt kehrt der Giro<br />

zurück zum Gavia auf einer respekteinflößenden<br />

Etappe. Es ist ein latentes<br />

Risiko, mit einem Radrennen zu dieser<br />

Jahreszeit auf diese Höhe zu gehen, aber<br />

der Giro ist immer schon auf einem<br />

Drahtseil zwischen Märchen und Machbarkeit<br />

spaziert. Die Anziehungskraft<br />

des Gavia hat weiter Bestand, egal, wie<br />

das Wetter ist.<br />

Der verstorbene Alfredo Martini, der<br />

1988 am Gavia im Auto hinterherfuhr,<br />

fing das Drama des Tages besser ein als<br />

die meisten. „In dem heftigen Schneesturm<br />

haben einige Fans ihre Jacke ausgezogen,<br />

um sie den Fahrern zu geben,<br />

einige haben sogar ihren Pullover ausgezogen“,<br />

erinnerte sich Martini 2007.<br />

„Solche Dinge passieren nur im Radsport,<br />

ein Sport, der immer ein großer Kampf<br />

gegen dich selbst ist.“<br />

773, als Karl der Große die Lombardei<br />

annektiert hatte, schlug<br />

seine Armee auf dem bewaldeten<br />

Pass, der Valtellina und Val Camonica<br />

miteinander verbindet, einen Aufstand<br />

von heidnischen Stämmen nieder, doch<br />

der Platz des Berges in der Geschichte<br />

war ein unbedeutender. Aber die Ankunft<br />

des Giro in den 1990ern warf plötzlich<br />

ein Licht auf diese unscheinbare Ecke der<br />

Alpen: Der Mortirolo wurde schnell zum<br />

gefürchtetsten Namen im Radsport.<br />

Andere Anstiege waren furchteinflößend<br />

aufgrund ihrer Höhe oder ihrer Länge;<br />

die atemberaubenden Steigungsgrade<br />

des Mortirolo bedeuteten, dass er wegen<br />

seiner schwindelerregenden Steilheit gefürchtet<br />

wurde. Nachdem man ihn 1990<br />

über die moderatere Seite via Edolo in<br />

Angriff genommen hatte, ließen die Giro-Organisatoren<br />

ein Jahr später die volle<br />

Kraft des Mortirolo auf die Fahrer los, als<br />

Franco Chioccioli sich auf der verschärften<br />

Strecke via Mazzo di Valtellina absetzte:<br />

12,8 Kilometer mit durchschnittlich<br />

10,1 Prozent Steigung und längeren<br />

Rampen mit 18 Prozent.<br />

Die schmale, baumgesäumte Straße<br />

verleiht dem Anstieg ein klaustrophobisches<br />

Gefühl, wo Nahaufnahmen von<br />

schmerzverzerrten Fahrergesichtern<br />

reichlich vorhanden sind. Niemand hat<br />

diese Maske des Schmerzes so getragen<br />

wie Marco Pantani, und der Ruf des Mortirolo<br />

als Feuerprobe des Leidens wurde<br />

zementiert, als der Italiener hier 1994<br />

Indurain abschüttelte.<br />

Der Steilhang löste auch die moderne<br />

Besessenheit des Sports von extremen<br />

Anstiegen aus. Der Mortirolo zeugte den<br />

Angliru, der den Weg für den Zoncolan<br />

ebnete. Aber während diese Anstiege<br />

mitunter fast zu schwer sind, um entscheidend<br />

zu sein, stellt der Mortirolo<br />

eine andere Herausforderung dar. Gerade<br />

steil genug, um eine Selektion zu erzwingen,<br />

aber nicht so extrem, um an Sadismus<br />

zu grenzen, ist es ein Anstieg, der<br />

für Angriffe genutzt werden kann, statt<br />

nur ertragen zu werden.<br />

MAI 2019 | PROCYCLING 67

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