Procycling 05.2019

DIE BERGE DES GIRO
ETAPPE
15
ETAPPE
15
MADONNA
D E L
GHISALLO
LÄNGE: 10,8 KM /
Ø-STEIGUNG: 5,2 %
Die Verbindung zwischen dem
ita lienischen Radsport und der
Religion, insbesondere dem Katholizismus,
könnte Gegenstand einer
Doktorarbeit sein, aber eine ihrer offensichtlichen
Parallelen liegt in den Bergen.
Ein Rennfahrer kann sich mit dem Symbol
des Bergs als Ort des Leidens und der Erlösung
identifizieren – Golgatha in den
Evangelien zum Beispiel oder der Fegefeuerberg
in Dantes Göttlicher Komödie –,
während praktisch gesehen Italien mit Kirchen
auf Hügelkuppen gespickt ist, sodass
ein Kirchturm oft als De-facto-Banner für
den „Gran Premio della Montagna“ dient.
Diese Symbiose zwischen Radsport
und Religion ist natürlich nicht nur gedanklich,
und der Giro 2019 besucht mit
der Madonna del Ghisallo erneut die bekannteste
dem Radsport gewidmete Kapelle.
Das Kirchlein auf dem Hügel oberhalb
von Magreglio wurde ursprünglich
im Mittelalter gebaut, nachdem von einer
Marienerscheinung berichtet wurde, und
die Madonna wurde die Patronin der Reisenden
in der Gegend.
1919 führte die Lombardei-Rundfahrt
auf den Ghisallo und der Anstieg wurde
sofort ein Fixpunkt auf einer Strecke, die
um die Arme des Comer Sees herumführt.
Bei einer Auflage der Lombardei-Rundfahrt
nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkte
der Gemeindepfarrer Ermelindo
Viganò, dass die Fahrer sich bekreuzigten,
als sie den Gipfel überquerten, was
ihn veranlasste, Papst Pius XII. zu bitten,
die Madonna zur Schutzpatronin der
Radrennfahrer zu erklären, und die Kapelle
wurde entsprechend umgeweiht.
Der Anstieg hat den Giro seit den
1930ern immer wieder geziert und war
1967 eine Hügelankunft. Dieses Mal
ist der Ghisallo auf der 15. Etappe als
Teil einer Hommage an die Lombardei-
Rundfahrt eingebaut, wobei die Colma
di Sormano, Civiglio und San Fermo della
Battaglia ebenfalls auf der Strecke liegen,
bevor es bergab nach Como geht. Der
Ghisallo kommt fast 70 Kilometer vor
dem Ziel – zu weit weg, um entscheidend
zu sein, aber trotzdem das emotionale
Herzstück der Etappe. Radsport dreht
sich wie Religion genauso um Rituale
wie um Resultate.
S A N
F E R M O
DELLA
BATTAGLIA
LÄNGE: 2,7 KM /
Ø-STEIGUNG: 8,2 %
Im zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg
1859 besiegten Giuseppe
Garibaldi und sein Freiwilligen-Korps
der „Cacciatori delle Alpi“ – Alpenjäger
– die Österreicher in Como, indem sie auf
dem Hügel von San Fermo ihre Flanke
umfassten. Als Garibaldi und seine
Männer in die unterhalb gelegene Stadt
vor drangen, waren die österreichischen
Kräfte komplett geflüchtet, womit eine
lange Geschichte der Fremdherrschaft
beendet war. Ein halbes Jahrhundert später
beschloss die Stadt, sich zu Ehren des
schicksalhaften Kampfes in San Fermo
della Battaglia umzubenennen.
Die verschlafene Atmosphäre in dem
Städtchen ist weit entfernt von den Tumulten
bei Garibaldis Angriff, aber in den
meisten Jahren erwacht sie an einem
Samstagnachmittag im Oktober als
Schluss anstieg der Lombardei-Rundfahrt
zum Leben. Das 2,7 Kilometer lange
Steilstück hat Vorstellungen von Merckx,
Gimondi, Hinault und zuletzt Nibali gesehen.
Wegen der Gefahr von Erdrutschen
wurde der Anstieg letztes Jahr aus der
Route gestrichen, aber ein erster Giro-Auf ­
tritt seit Beginn der frühen 1990er bei der
Mini-Lombardei-Rundfahrt der 15. Etappe
ist eine reichliche Entschädigung.
DAS 2,7 KILOMETER
LANGE STEILSTÜCK HAT
VORSTELLUNGEN VON
MERCKX, GIMONDI,
HINAULT UND ZULETZT
NIBALI GESEHEN.
66 PROCYCLING | MAI 2019