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Zeitsprung

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70 Jahre Pforzheimer Zeitung + 225 Jahre Zeitung in Pforzheim<br />

109<br />

Viel Freude<br />

und etwas<br />

Wehmut<br />

Als am 1. Oktober 1949 die erste<br />

PZ-Ausgabe erschien, erblickte Dorothée<br />

Kunzmann das Licht der Welt. Beim<br />

Blättern durch die Ausgabe werden<br />

Erinnerungen wach an eine Jugend in<br />

einer Stadt im Wiederaufbau.<br />

von Michael Müller<br />

Die Freude ist riesig. „Mensch,<br />

so war das damals“, sagt Dorothée<br />

Kunzmann (geb. Kirschler),<br />

als sie die PZ-Ausgabe<br />

vom 1. Oktober 1949 in Händen<br />

hält und mit strahlendem<br />

Lächeln durchblättert. Ihr Mann Heinz Kunzmann<br />

fügt scherzhaft hinzu: „Das sieht wenigstens noch<br />

nach Zeitung aus. Nicht so viele Bilder wie heute.“<br />

Erinnerungen werden wach. Wobei die echten Erinnerungen<br />

von Dorothée Kunzmann natürlich erst<br />

später einsetzen, denn an besagtem Samstag in der<br />

Pforzheimer Nachkriegszeit erblickte sie das Licht<br />

der Welt. Der Stadt ist sie in all den Jahren treu geblieben.<br />

Seit ihrer Geburt. „Ich bin eine alteingesessene<br />

Arlingerin und habe mich hier immer sehr<br />

wohl gefühlt. Seit ich denken kann, lese ich die PZ“,<br />

sagt Dorothée Kunzmann. Beim Blättern fällt ihr<br />

Blick auf die eine oder andere Schlagzeile: „2131 Familien<br />

suchen Wohnungen“ steht da auf einer der<br />

PZ-Seiten. Und tatsächlich: „Wohnraum hat in der<br />

kriegszerstörten Stadt hinten und vorne gefehlt“,<br />

sagt die 69-Jährige. Sie selbst habe mit ihrer Familie<br />

zu fünft in einer Zwei-Zimmer-Wohnung an der<br />

Dietlinger Straße gelebt. Auch sonst erinnert sie sich<br />

noch an so manche Entbehrung: Sehr gut sind ihr<br />

noch die Schüler-Speisungen an der Arlingerschule<br />

im Gedächtnis.<br />

Nach der vierten Klasse ging Dorothée Kunzmann<br />

aufs Hilda-Gymnasium. Zum Schwimmunterricht<br />

musste sie immer über den Marktplatz<br />

an einer Pferdemetzgerei vorbei zum Emma-Jaeger-Bad<br />

laufen. „Die Stadtkirche lag zum<br />

Teil noch in Trümmern, wie so viele Gebäude in<br />

der Innenstadt.“ Anfangs fuhr sie mit dem von Ittersbach<br />

kommenden „Bähnle“ in die Stadt, später<br />

mit Bussen, die mittels Oberleitungen fuhren.<br />

„Die Gestänge sprangen beim Aufwärtsfahren an<br />

der Bahnhofstraße immer wieder raus. Der Busfahrer<br />

musste aussteigen und sie wieder hochhieven.<br />

Für uns Kinder war das lustig.“ Ihre Eltern<br />

bauten später an der Ecke Höhen-/Schliffkopfstraße.<br />

„An den Sonntagen, wenn unsere Eltern<br />

Zeit für uns hatten, hatten wir sehr schöne<br />

Nachmittage mit der ganzen Familie“, erzählt<br />

sie. Auch das habe geprägt: Die Erwachsenen saßen<br />

beim Kaffee (ab und zu mit Zichorie vermischt),<br />

die Kinder spielten im Garten, überlegten<br />

sich Theaterstücke und spielten Kasperle.<br />

„Es gab ja keinen Fernsehapparat, so ließen wir<br />

unsere Fantasie walten.“ Und der starke Zusammenhalt<br />

in der Familie werde bis heute gepflegt.<br />

Eine weitere Schlagzeile weckt Dorothée Kunzmanns<br />

Interesse: „Einzelhandel schafft Leben“, so<br />

steht es am 1. Oktober 1949 in der PZ. Ihre Familie<br />

war am Wiederaufbau der City beteiligt. „Die von<br />

meinem Opa gegründete Firma Stempel Weeber<br />

war eine der ersten, die nach der Zerstörung Pforzheims<br />

in der Ladenzeile am Bohnenberger Schlöß-<br />

„<br />

Sie liest die PZ, seit sie denken kann. Nun hält Dorothée Kunzmann die erste Ausgabe vom 1. Oktober 1949 in Händen – dem Tag, als sie geboren<br />

wurde.<br />

FOTOS: MORITZ<br />

„Im Sommer machten wir oft<br />

Picknick auf einer großen Wiese,<br />

wir Kinder sammelten Beeren im<br />

Wald und verkauften diese für<br />

50 Pfennig an die Erwachsenen.<br />

Den Zusammenhalt in unseren<br />

Familien pflegen wir bis heute.“<br />

Dorothée Kunzmann (erinnert sich an ihre Kindheit)<br />

le wiedereröffnet hat“, erinnert sie sich. Und das<br />

kam so: Ihre Mutter Ruth Kirschler (geb. Weeber)<br />

schaffte es, vor der Bombardierung viele Setzkästen<br />

samt Bleisatz mit dem Leiterwagen nach Büchenbronn<br />

zu schaffen, wo sie mit ihren Eltern bei<br />

einem Pfarrer Unterschlupf fand. „Da mein Opa<br />

zum Gehen zu erschöpft war, musste sie ihn auch<br />

mit hochziehen – wie auch bei den Hamstergängen<br />

zu unseren Verwandten im Zabergäu.“<br />

Auf dem Tisch Erinnerungen: die Leserin im Gespräch mit PZ-Redakteur<br />

Michael Müller.<br />

Die Fabrikation der Stempel nahm die Familie<br />

nach dem Angriff im nicht so stark zerstörten<br />

Brötzingen wieder auf. „Unsere<br />

Mutter war stets die treibende Kraft“, sagt Dorothée<br />

Kunzmann. 1948 öffneten mehr als 20 Einzelhandelsgeschäfte<br />

am Bohnenberger Schlößle ihre Türen,<br />

so auch Stempel Weeber. Schon als Zehnjährige<br />

half sie gerne im Verkauf mit. „Ich habe Stempel für<br />

Kunden aufgenommen, dabei konnte ich noch nicht<br />

mal das Wort ,Stuttgart‘ richtig schreiben“, sagt sie<br />

und lacht. Oder sie hat, vor allem vor Weihnachten,<br />

Kalender an Firmen ausgetragen. „Mit unseren kleinen<br />

Jahresstempeln – sehr praktisch für die Buchhaltung.“<br />

50 Pfennig habe sie fürs Austragen bekommen.<br />

„Man war ja froh um jedes Taschengeld.“ Später<br />

wurde den Eltern ein Grundstück am Marktplatz<br />

angeboten. 1961 zogen sie mit Fabrikation und Verkauf<br />

um an den Standort, den der Betrieb bis heute<br />

hat. Dorothée Kunzmann hat auf der höheren Handelsschule<br />

mittlere Reife gemacht und Industriekauffrau<br />

gelernt. Von 1966 bis zur Geburt ihrer Zwillinge<br />

1982 hat sie im elterlichen Betrieb gearbeitet,<br />

später stundenweise in der Allgemeinmediziner-<br />

Praxis ihres Mannes.<br />

Beim Blick auf die Anzeigen in der historischen<br />

PZ-Ausgabe wird sie etwas wehmütig: „Bossert,<br />

Erber, Regelmann, Dina Loth, Kinderwagen<br />

Schmelzer und Schuh-Bross – was hatten wir tolle<br />

Geschäfte in der Stadt. Heute macht das Internet<br />

den Handel kaputt. Und die Innenstädte.“<br />

Auch zu so mancher Nachkriegsarchitektur hat<br />

Dorothée Kunzmann starken Bezug, vor allem zur<br />

in den frühen 1950er-Jahren von Egon Eiermann<br />

im Arlinger erbauten Matthäuskirche. Nach ihrem<br />

Empfinden ein sehr gelungener Bau. „Da hatten<br />

wir früher vom Kindergarten aus oft gesungen und<br />

Gedichte vorgetragen.“<br />

Zum Schluss muss Dorothée Kunzmann noch<br />

einmal lachen – beim Blick auf den Verkaufspreis<br />

der PZ am 1. Oktober 1949: „15 Pfennig, das ist der<br />

Wahnsinn!“ Die PZ wünscht Ihnen nun ganz herzlich<br />

alle Gute, Frau Kunzmann!

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