11.09.2021 Aufrufe

bull_08_03_Ozean

Credit Suisse bulletin, 2008/03

Credit Suisse bulletin, 2008/03

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

10<br />

<strong>Ozean</strong> Wohnraum<br />

Ob Lloyd Godson wohl in die Annalen der Unterwasserbesiedlung<br />

eingehen wird? Als der Mann, der den entscheidenden Schritt<br />

schaffte – der Neil Armstrong der <strong>Ozean</strong>eroberung sozu sagen?<br />

Wenn ja, dann werden die Menschen, die in 100 oder 150 Jahren<br />

über Godson lesen und dabei vielleicht in ihrem Unterwasserwohnzimmer<br />

sitzen, hinter grossen Acrylfenstern, die den Blick<br />

freigeben auf Korallengärten; auf Tunnel, welche die Bungalows<br />

der Nachbarn verbinden; auf Mini-U-Boote, die für ausgedehnte<br />

Trips vor den Häusern vertäut sind; dann also werden es sich jene<br />

Menschen vermutlich nicht verkneifen können zu lächeln. Sie<br />

werden feixen über Godsons postautogelb bemaltes, fensterloses<br />

Unterwasserhabitat aus Stahl, das so sehr an einen über dimen sionierten<br />

Werkzeugkasten erinnert. Darüber, dass es nicht im Meer<br />

sass, sondern auf dem Grund eines überfluteten Steinbruchs. Über<br />

die 100 Prozent Luftfeuchtigkeit, die darin herrschten, und über<br />

die Enge. Nur zweieinhalb Meter breit, drei Meter lang und zwei<br />

Meter hoch war das Refugium, in dem der 29-Jährige im April vergangenen<br />

Jahres zwölf Tage unter Wasser lebte. Eine Camping liege,<br />

ein stationäres Fahrrad, ein Chemieklo, ein paar an die Wand geklebte<br />

Bilder – viel mehr passte nicht hinein.<br />

Es fällt ja jetzt schon schwer, nicht über Godson zu schmunzeln.<br />

Schon weil der Meeresbiologe aus Australien in den Videodepeschen,<br />

mit denen er sich fast täglich bei der Aussenwelt meldete, so ansteckend<br />

gut gelaunt wirkt. Wenn er etwa vom Bett aus angelt,<br />

indem er die Rute über die offene Einstiegsluke am Boden seines<br />

Habitats hält – und doch nichts fürs Abendessen fängt. Wenn er<br />

im Schummerlicht auf den zwei Minitrommeln herumscheppert, die<br />

er von seiner Freundin bekommen hat. Oder wenn er leicht konsterniert<br />

feststellt, dass Moskitos seine Unterwasserbehausung<br />

infiltriert haben.<br />

Algenkolonien für die Sauerstoffproduktion<br />

Diese Zeitvertreibe mögen banal wirken. Dennoch hat der Meeresbiologe<br />

in den Augen mancher Grossartiges erreicht. Nicht, dass<br />

er es länger unter Wasser ausgehalten hätte als je ein Mensch vor<br />

ihm. Diese Ehre gebührt – noch – einem Mann namens Rick Presley,<br />

der 1992 ganze 69 Tage im nassen Element ausharrte. Doch Godson<br />

war der Erste, der gezielt versuchte, sich von der Infrastruktur<br />

des Landes unabhängig zu machen. Er produzierte zumindest einen<br />

Teil seines Sauerstoffs selbst, indem er sein Habitat mit einer Algenkolonie<br />

ausstattete. Täglich strampelte er mehrere Stunden auf<br />

dem Ergometer, um die Pumpe anzutreiben, die Wasser durch die<br />

Sauerstoff produzierenden Pflanzen spülte – und erzeugte so auch<br />

gleich den Strom, um seinen Laptop zu speisen. Die Algen absorbierten<br />

zudem das Kohlendioxid, das Godson ausatmete, und sie<br />

eigneten sich sogar zum Konsumieren. «Das Besiedeln des Meeresgrunds<br />

gehört zu den letzten Dingen, die noch unerreicht sind»,<br />

sagte Godson nach seiner Rückkehr an Land. «Wenn wir es intelligent<br />

angehen, könnte das Bauen von Unterwasserkolonien eine<br />

der grössten Errungenschaften des 21. Jahrhunderts werden.»<br />

Einer, den Godsons Erfahrungen ungemein interessierten, war<br />

Dennis Chamberland, ein Bio-Ingenieur und langjähriger Mitar beiter<br />

der US-Raumfahrtbehörde NASA. Denn der Amerikaner möchte<br />

im Frühjahr kommenden Jahres selbst unter Wasser ziehen.<br />

80 Tage will der erfahrene Taucher dann gemeinsam mit seiner Frau<br />

Claudia und einem weiteren Begleiter in einem privat finanzierten<br />

Habitat vor der Küste Floridas verbringen. Und das ist nur zum<br />

Aufwärmen gedacht. Läuft alles nach Plan, wird Chamberland<br />

bereits 2012 eine permanente Kolonie auf dem Boden des Meeres<br />

gründen. Interessenten können sich auf seiner Website bereits um<br />

einen Platz bewerben. «Ich spreche von einer Unterwasserstadt,<br />

einem Wohnort für ganze Familien», wirbt der Amerikaner.<br />

Leben im Meer – warum eigentlich nicht ? Rein rational ist das<br />

äusserst sinnvoll. Schliesslich bedeckt Wasser gut zwei Drittel der<br />

Oberfläche unseres Planeten. Land dagegen ist mit nur 15 Milliarden<br />

Hektar vergleichsweise rar und an manchen Orten – wie<br />

Macao – drängeln sich bereits fast 10 000 Menschen pro Quadratkilometer<br />

trockenen Bodens.<br />

Erste Langzeitversuche in den Sechzigerjahren<br />

Technologisch ist das Überleben unter Wasser ebenfalls kein Problem,<br />

wie wir seit dem 7. September 1962 wissen. Damals wurde<br />

der Belgier Robert Stenuit zum ersten «Aquanauten» der Geschichte.<br />

26 Stunden sass er in einer vier Meter langen Aluminiumröhre, die<br />

60 Meter tief im Mittelmeer baumelte. Fast zeitgleich zogen die<br />

Franzosen Albert Falco und Claude Wesly in die See. Unter dem<br />

Kommando des legendären Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau<br />

verbrachten sie im September 1962 eine ganze Woche in einem<br />

Habitat namens «Conshelf I», einem fünf Meter langen und zweieinhalb<br />

Meter hohen Stahlzylinder, der jenseits von Marseille zehn<br />

Meter tief auf dem Meeresgrund verankert wurde. Schläuche vom<br />

Land versorgten die Aquanauten mit Luft, Infrarotstrahler wärmten<br />

sie, Schaumgummi an den Wänden hielt ihre Behausung trocken<br />

und ein Plattenspieler bot ihnen Unterhaltung. Kuriertaucher brachten<br />

Essen und zweimal pro Tag schwamm ein Arzt in die unterseeische<br />

Wohntonne, um sicherzustellen, dass Falco und Wesly den<br />

dauerhaft erhöhten Druck gut vertrugen.<br />

Damit war der Auftakt gemacht und es folgte eine Phase intensiven<br />

Experimentierens mit dem Wohnen im Meer. 65 Habitate errichtete<br />

die Welt in den folgenden zwei Jahrzehnten. Manche lagen<br />

mit fünf Metern Tiefgang kaum unter der Wellengrenze, andere –<br />

wie das «Sealab III» der US-Marine – mit 300 Metern in einer Zone<br />

tintiger Dunkelheit. Selbst Länder, die gar nicht über eine Küste<br />

verfügen – wie die Tschechoslowakei –, beteiligten sich am Run auf<br />

die neue Lebensform. Zu den bizarrsten Konstruktionen, die in<br />

jenen Tagen auf dem <strong>Ozean</strong>boden errichtet wurden, gehörte ein<br />

Gummizelt, das US-Forscher 1964 in 130 Metern Tiefe nahe der<br />

Bahamas aufschlugen. (Die beiden Aquanauten, die darin übernachteten,<br />

wurden mehrfach aus dem Schlaf gerissen, als ein<br />

mächtiger Zackenbarsch bei seiner Jagd auf Sardinen gegen die<br />

Gummiblase rumste.)<br />

Andere Habitate beeindruckten durch ihre bemerkenswert luxuriöse<br />

Ausstattung. «Die Behausungen verfügen über fast jeden<br />

gewohnten Komfort wie Klimaanlagen, nagelneue Küchen, Kühlschränke,<br />

Telefone und Betriebsfernsehen», schrieb das US-Magazin<br />

«Time» 1963 über «Conshelf II», einen Nachfolger von Falcos<br />

und Weslys Unterwasserrefugium. «Sollten sich die Bewohner drinnen<br />

langweilen, legen sie ihren Tauchapparat an und treten durch<br />

die ‹Haustür›: ein Loch im Boden. Draussen können sie nach Belieben<br />

umherstreifen und schmackhaftes Meeresgetier sammeln,<br />

um es dann in ihren Traumküchen zuzubereiten.» Insgesamt verbrachten<br />

in jenen Tagen über 800 Aquanauten Zeit unter Wasser.<br />

Die ausdauerndsten lebten durchgehend zwei Monate in der Tiefe.<br />

Es war die Ära, in der der Forschungsdrang der Menschheit<br />

ohne hin hohe Wellen schlug. Der Kalte Krieg trieb die Gross mächte<br />

an, das noch Unbekannte zu erobern. Und neben dem All war ><br />

Fotos: Carolina Sarasiti, www.biosub.com.au | Handout, Getty Images | OAR/National Undersea Research Program (NURP), U.S. Navy | Créations Jacques Rougerie<br />

Credit Suisse Bulletin 3/<strong>08</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!