bull_08_03_Ozean
Credit Suisse bulletin, 2008/03
Credit Suisse bulletin, 2008/03
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10<br />
<strong>Ozean</strong> Wohnraum<br />
Ob Lloyd Godson wohl in die Annalen der Unterwasserbesiedlung<br />
eingehen wird? Als der Mann, der den entscheidenden Schritt<br />
schaffte – der Neil Armstrong der <strong>Ozean</strong>eroberung sozu sagen?<br />
Wenn ja, dann werden die Menschen, die in 100 oder 150 Jahren<br />
über Godson lesen und dabei vielleicht in ihrem Unterwasserwohnzimmer<br />
sitzen, hinter grossen Acrylfenstern, die den Blick<br />
freigeben auf Korallengärten; auf Tunnel, welche die Bungalows<br />
der Nachbarn verbinden; auf Mini-U-Boote, die für ausgedehnte<br />
Trips vor den Häusern vertäut sind; dann also werden es sich jene<br />
Menschen vermutlich nicht verkneifen können zu lächeln. Sie<br />
werden feixen über Godsons postautogelb bemaltes, fensterloses<br />
Unterwasserhabitat aus Stahl, das so sehr an einen über dimen sionierten<br />
Werkzeugkasten erinnert. Darüber, dass es nicht im Meer<br />
sass, sondern auf dem Grund eines überfluteten Steinbruchs. Über<br />
die 100 Prozent Luftfeuchtigkeit, die darin herrschten, und über<br />
die Enge. Nur zweieinhalb Meter breit, drei Meter lang und zwei<br />
Meter hoch war das Refugium, in dem der 29-Jährige im April vergangenen<br />
Jahres zwölf Tage unter Wasser lebte. Eine Camping liege,<br />
ein stationäres Fahrrad, ein Chemieklo, ein paar an die Wand geklebte<br />
Bilder – viel mehr passte nicht hinein.<br />
Es fällt ja jetzt schon schwer, nicht über Godson zu schmunzeln.<br />
Schon weil der Meeresbiologe aus Australien in den Videodepeschen,<br />
mit denen er sich fast täglich bei der Aussenwelt meldete, so ansteckend<br />
gut gelaunt wirkt. Wenn er etwa vom Bett aus angelt,<br />
indem er die Rute über die offene Einstiegsluke am Boden seines<br />
Habitats hält – und doch nichts fürs Abendessen fängt. Wenn er<br />
im Schummerlicht auf den zwei Minitrommeln herumscheppert, die<br />
er von seiner Freundin bekommen hat. Oder wenn er leicht konsterniert<br />
feststellt, dass Moskitos seine Unterwasserbehausung<br />
infiltriert haben.<br />
Algenkolonien für die Sauerstoffproduktion<br />
Diese Zeitvertreibe mögen banal wirken. Dennoch hat der Meeresbiologe<br />
in den Augen mancher Grossartiges erreicht. Nicht, dass<br />
er es länger unter Wasser ausgehalten hätte als je ein Mensch vor<br />
ihm. Diese Ehre gebührt – noch – einem Mann namens Rick Presley,<br />
der 1992 ganze 69 Tage im nassen Element ausharrte. Doch Godson<br />
war der Erste, der gezielt versuchte, sich von der Infrastruktur<br />
des Landes unabhängig zu machen. Er produzierte zumindest einen<br />
Teil seines Sauerstoffs selbst, indem er sein Habitat mit einer Algenkolonie<br />
ausstattete. Täglich strampelte er mehrere Stunden auf<br />
dem Ergometer, um die Pumpe anzutreiben, die Wasser durch die<br />
Sauerstoff produzierenden Pflanzen spülte – und erzeugte so auch<br />
gleich den Strom, um seinen Laptop zu speisen. Die Algen absorbierten<br />
zudem das Kohlendioxid, das Godson ausatmete, und sie<br />
eigneten sich sogar zum Konsumieren. «Das Besiedeln des Meeresgrunds<br />
gehört zu den letzten Dingen, die noch unerreicht sind»,<br />
sagte Godson nach seiner Rückkehr an Land. «Wenn wir es intelligent<br />
angehen, könnte das Bauen von Unterwasserkolonien eine<br />
der grössten Errungenschaften des 21. Jahrhunderts werden.»<br />
Einer, den Godsons Erfahrungen ungemein interessierten, war<br />
Dennis Chamberland, ein Bio-Ingenieur und langjähriger Mitar beiter<br />
der US-Raumfahrtbehörde NASA. Denn der Amerikaner möchte<br />
im Frühjahr kommenden Jahres selbst unter Wasser ziehen.<br />
80 Tage will der erfahrene Taucher dann gemeinsam mit seiner Frau<br />
Claudia und einem weiteren Begleiter in einem privat finanzierten<br />
Habitat vor der Küste Floridas verbringen. Und das ist nur zum<br />
Aufwärmen gedacht. Läuft alles nach Plan, wird Chamberland<br />
bereits 2012 eine permanente Kolonie auf dem Boden des Meeres<br />
gründen. Interessenten können sich auf seiner Website bereits um<br />
einen Platz bewerben. «Ich spreche von einer Unterwasserstadt,<br />
einem Wohnort für ganze Familien», wirbt der Amerikaner.<br />
Leben im Meer – warum eigentlich nicht ? Rein rational ist das<br />
äusserst sinnvoll. Schliesslich bedeckt Wasser gut zwei Drittel der<br />
Oberfläche unseres Planeten. Land dagegen ist mit nur 15 Milliarden<br />
Hektar vergleichsweise rar und an manchen Orten – wie<br />
Macao – drängeln sich bereits fast 10 000 Menschen pro Quadratkilometer<br />
trockenen Bodens.<br />
Erste Langzeitversuche in den Sechzigerjahren<br />
Technologisch ist das Überleben unter Wasser ebenfalls kein Problem,<br />
wie wir seit dem 7. September 1962 wissen. Damals wurde<br />
der Belgier Robert Stenuit zum ersten «Aquanauten» der Geschichte.<br />
26 Stunden sass er in einer vier Meter langen Aluminiumröhre, die<br />
60 Meter tief im Mittelmeer baumelte. Fast zeitgleich zogen die<br />
Franzosen Albert Falco und Claude Wesly in die See. Unter dem<br />
Kommando des legendären Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau<br />
verbrachten sie im September 1962 eine ganze Woche in einem<br />
Habitat namens «Conshelf I», einem fünf Meter langen und zweieinhalb<br />
Meter hohen Stahlzylinder, der jenseits von Marseille zehn<br />
Meter tief auf dem Meeresgrund verankert wurde. Schläuche vom<br />
Land versorgten die Aquanauten mit Luft, Infrarotstrahler wärmten<br />
sie, Schaumgummi an den Wänden hielt ihre Behausung trocken<br />
und ein Plattenspieler bot ihnen Unterhaltung. Kuriertaucher brachten<br />
Essen und zweimal pro Tag schwamm ein Arzt in die unterseeische<br />
Wohntonne, um sicherzustellen, dass Falco und Wesly den<br />
dauerhaft erhöhten Druck gut vertrugen.<br />
Damit war der Auftakt gemacht und es folgte eine Phase intensiven<br />
Experimentierens mit dem Wohnen im Meer. 65 Habitate errichtete<br />
die Welt in den folgenden zwei Jahrzehnten. Manche lagen<br />
mit fünf Metern Tiefgang kaum unter der Wellengrenze, andere –<br />
wie das «Sealab III» der US-Marine – mit 300 Metern in einer Zone<br />
tintiger Dunkelheit. Selbst Länder, die gar nicht über eine Küste<br />
verfügen – wie die Tschechoslowakei –, beteiligten sich am Run auf<br />
die neue Lebensform. Zu den bizarrsten Konstruktionen, die in<br />
jenen Tagen auf dem <strong>Ozean</strong>boden errichtet wurden, gehörte ein<br />
Gummizelt, das US-Forscher 1964 in 130 Metern Tiefe nahe der<br />
Bahamas aufschlugen. (Die beiden Aquanauten, die darin übernachteten,<br />
wurden mehrfach aus dem Schlaf gerissen, als ein<br />
mächtiger Zackenbarsch bei seiner Jagd auf Sardinen gegen die<br />
Gummiblase rumste.)<br />
Andere Habitate beeindruckten durch ihre bemerkenswert luxuriöse<br />
Ausstattung. «Die Behausungen verfügen über fast jeden<br />
gewohnten Komfort wie Klimaanlagen, nagelneue Küchen, Kühlschränke,<br />
Telefone und Betriebsfernsehen», schrieb das US-Magazin<br />
«Time» 1963 über «Conshelf II», einen Nachfolger von Falcos<br />
und Weslys Unterwasserrefugium. «Sollten sich die Bewohner drinnen<br />
langweilen, legen sie ihren Tauchapparat an und treten durch<br />
die ‹Haustür›: ein Loch im Boden. Draussen können sie nach Belieben<br />
umherstreifen und schmackhaftes Meeresgetier sammeln,<br />
um es dann in ihren Traumküchen zuzubereiten.» Insgesamt verbrachten<br />
in jenen Tagen über 800 Aquanauten Zeit unter Wasser.<br />
Die ausdauerndsten lebten durchgehend zwei Monate in der Tiefe.<br />
Es war die Ära, in der der Forschungsdrang der Menschheit<br />
ohne hin hohe Wellen schlug. Der Kalte Krieg trieb die Gross mächte<br />
an, das noch Unbekannte zu erobern. Und neben dem All war ><br />
Fotos: Carolina Sarasiti, www.biosub.com.au | Handout, Getty Images | OAR/National Undersea Research Program (NURP), U.S. Navy | Créations Jacques Rougerie<br />
Credit Suisse Bulletin 3/<strong>08</strong>