24 <strong>Ozean</strong> Tanger Ksar es-Sghir war bis vor kurzem ein von der Welt abgeschiedener Ort am Ufer des Mittelmeers, gut 30 Kilometer östlich von Tanger. Ein marokkanisches Dorf wie tausend andere auch: Ein paar wenige kleine Läden, einfache Cafés und Restaurants entlang der Hauptstrasse, eine Moschee, bescheidene Wohnhäuser sowie ein paar Dutzend Neubauten in einem undefinierbaren Stil; hingeklotzt von Rückkehrern aus Europa. Im Café sitzt Mourad, ein kräftiger Mann Mitte dreissig. Kleidung und gegerbte Haut verraten seine bäuerliche Herkunft. Er trinkt einen Kaffee. Sein Blick schweift über die alten Gärten mit Olivenbäumen zur Mündung eines kleinen Flusses ins Meer. «In Ksar es-Sghir ist eine neue Zeit angebrochen», sagt Mourad trocken. «Nichts ist mehr, wie es bisher war.» Was dies genau be deutet, lässt sich erst ausserhalb des Dorfes erahnen. Da werden mit einem Mal die gewaltigen Infrastrukturarbeiten sichtbar, die in Angriff genommen oder bereits vollendet worden sind. Im Minutentakt dröhnen denn auch schwere Sattelschlepper und riesige Bau maschinen durch die Hauptstrasse. Eine neue Autobahn und eine Eisenbahnlinie schwingen sich auf einer kühn angelegten Trasse über Brücken und Dämme durch die hügelige Landschaft. Keine fünf Kilometer ausserhalb des Dorfs steht man schliesslich vor den gewaltigen Anlagen des neuen Container- und Fährhafens, der hier in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft worden ist. Gigantische Containerbrücken aus China Die einst von Surfern als Geheimtipp gehandelte, abgelegene Bucht mit ihrem schönen Sandstrand ist nicht wiederzuerkennen. Von einer weit ins Meer hinausragenden Mole geschützt, ist hier ein hochmoderner Tiefseehafen mit einem 800 Meter langen Pier, gigantischen Containerbrücken sowie riesigen Umlade- und Stapelflächen entstanden. Das gesamte Gelände hinter der eigentlichen Hafenanlage befindet sich noch im Rohbau. Wie überdimensionierte Insekten fahren grosse Baumaschinen mit ohrenbetäubendem Gekreisch durch das aufgewühlte Erdreich und modellieren das weiträumige Gelände. Schon bald werden hier Lagerhallen, Verwaltungsgebäude, Umschlagplätze und riesige Hangars entstehen. «Als im März dieses Jahres die ersten fünf gewaltigen Containerbrücken aus China per Schiff angeliefert und montiert wurden», sagt Mourad, «ist es mir beinahe schwindlig geworden.» Irgendwie wagten weder Mourad noch seine Kollegen aus dem Dorf richtig dran zu glauben, dass die hochfahrenden Pläne tatsächlich umgesetzt würden. Doch vor gut einem Jahr, im Juli 2007, nahm der erste Terminal den Betrieb auf. Nun arbei tet Mourad, der noch vor kurzem von der Landwirtschaft und dem Schmuggel lebte, auf einer der zahlreichen Baustellen von «Tanger Med» – und erhofft sich, auch ein kleines Stück vom Fortschritt und Wohlstand abschneiden zu können, der sich hier auf drastische und unübersehbare Weise ankündigt. Das Projekt Tanger Méditerrannée – kurz Tanger Med genannt – ist das ehrgeizigste Projekt Marokkos. Es soll entscheidend dazu beitragen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Und die sind alles andere als gering: Ein immer noch viel zu hohes Bevölkerungswachstum, Heerscharen von arbeitslosen oder zu prekären Bedingungen angestellten jungen Menschen; Hunderttausende schliesslich, die am Rand der grossen Städte knapp an der Armutsgrenze leben. Und überall der drängende Wunsch nach einem besseren Leben, wie es das so nahe und dennoch für die allermeisten unerreichbare Europa Tag für Tag via TV-Kanäle vorspiegelt. Eine tief greifende soziale Unrast ist die Folge, welche die Fundamente der Alaouitenmonarchie jederzeit erschüttern könnte. Und da ist eine erstarkte islamistische Be wegung, die der Frustration breiter Bevölkerungsschichten immer fordernder Ausdruck verleiht. Manche Beobachter meinen denn auch, dass nur noch ein gewaltiger Schritt nach vorn den Fortbestand des heutigen politischen Systems garantieren könne. So ist es kein Wunder, dass die treibende Kraft hinter Tanger Med der marokkanische König Mohamed VI. ist. In Rekordzeit hat er das anspruchsvolle Projekt, in das der marokkanische Staat bereits mehr als eine Milliarde Euro an Steuergeldern investiert hat, durchgepeitscht. Die absolutistischen Befugnisse des Monarchen, fehlende Einsprachemöglichkeiten sowie der geschickte Entscheid, die Umsetzung des Projekts einer eigens gegründeten Agentur namens Tangier Med Special Agency (TMSA) zu übertragen, haben diese rasche Umsetzung überhaupt erst ermöglicht. Angesichts der Schwerfälligkeit der marokkanischen Verwaltung muss dies als reife Leistung bezeichnet werden. Die Idee, die strategisch einzigartige Lage von Tanger wirtschaftlich zu nutzen, ist naheliegend. Denn der neue Tiefseehafen befindet sich nicht nur direkt an der Meerenge von Gibraltar, die Jahr für Jahr von mehr als 100 000 Schiffen durchquert wird, sondern auch am Kreuzungspunkt der Warenströme in west-östlicher und nord-südlicher Richtung. Dazu kommt, dass bis heute nur wenig Häfen existieren, in denen Containerschiffe der neusten Ge neration und Supertanker – sie weisen eine Länge von rund 400 Metern auf – anlegen können. Aufgrund des enorm gestiegenen Warenaustausches zwischen Europa, dem Maghreb, den USA und dem Fernen Osten besteht laut Experten ein dringender Bedarf an neuen Tiefseehäfen, in denen die Containerfracht auf andere, kleinere Schiffe oder auf die Strasse und die Schiene umgeladen werden kann. Genau dafür ist Tanger prädestiniert. So erscheinen die hochtrabenden Pläne, mit Tanger Med nach dem Vorbild von Dubai eine weltweit bedeutende Drehscheibe für den internationalen Güterverkehr ins Leben zu rufen, durchaus realistisch. Beteiligung der Genfer Reederei MSC Für die Realisierung des neuen Tiefseehafens hat die marokkanische Regierung die weltbesten Firmen mit Erfahrung in der Verwirklichung derartiger Grossprojekte engagiert. Zu ihnen gehören etwa der französische Baumulti Bouygues und die weltgrösste Reederei A. P. Møller-Maersk, aber auch die in Genf ansässige Mediterranean Shipping Company MSC, die je nach Berechnungsart Nummer zwei oder drei der Branche ist. Diese Firmen haben sich zu Konsortien zusammengetan, die im Auftrag der TMSA den neuen Tiefseehafen und die dazugehörige Infrastruktur errichten. Marokko ist es schliesslich auch gelungen, diese internationalen Firmen sowie die EU zur Mitfinanzierung des Projekts zu gewinnen; rund zwei Drittel der gesamten Baukosten von rund drei Milliarden Euro sollen auf diese Weise finanziert werden. Nur ein Jahr nach der offiziellen Einweihung des Hafens durch König Mohamed VI. soll noch in diesem Sommer ein zweiter Terminal dem Betrieb übergeben werden. Doch damit nicht genug; bereits sind die Ausschreibungen für eine zweite Ausbauetappe im Gang, die bis 2012 realisiert werden soll. Damit würde Tanger Med in absehbarer Zeit der bedeutendste Hafen Afrikas und einer der ganz grossen Frachthäfen im gesamten Mittelmeerraum sein. Doch Tanger will nicht nur eine der wichtigsten Drehscheiben für den > Foto: TMSA Credit Suisse Bulletin 3/<strong>08</strong>
<strong>Ozean</strong> Tanger 25 Tanger Med I Containerterminals 1 und 2; Kapazität 3 Millionen TEU Fahrzeugterminal; Kapazität 1 Million Fahrzeuge (eröffnet 2007) CT3 CT4 Tanger Med II Containerterminals 3 und 4; Kapazität 5 Millionen TEU (Eröffnung 2012) Fährhafen Kapazität 7 Millionen Passagiere, 700 000 Lastwagen Lagerungsterminal Ölterminal STEP (Eröffnung 2009) CT1 Logistikfreizone CT2 0 m 500 m 1000 m Vordere Doppelseite Im Juli 2007 nahm der erste Terminal von Tanger Med I seinen Betrieb auf. Bis zu 400 Meter lange Containerschiffe können an der neu gebauten Pier anlegen. Bis 2015 soll die Kapazität des strategisch ideal gelegenen Hafens kontinuierlich auf 3,5 Millionen Container pro Jahr hochgefahren werden. Diese Seite Satellitenbild und Planungsskizze: Zusätzlich zum Containerhafen entsteht ein Fährhafen für sieben Millionen Passagiere und 700 000 Fahrzeuge im Jahr. Bereits begonnen wurde auch mit der Planung und Realisierung von Tanger Med II. Dieser zweite Containerhafen soll bis im Jahr 2012 fertiggestellt sein. Credit Suisse Bulletin 3/<strong>08</strong>