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Credit Suisse bulletin, 2008/03
Credit Suisse bulletin, 2008/03
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66<br />
Gesellschaft Klimawandel<br />
Radikale Wege finden<br />
Um verheerende Folgen des Klimawandels abzuwenden, verlangten Wissenschaftler<br />
und Stadtplaner an dem von der Credit Suisse unterstützten World Science Summit<br />
in New York radikale Massnahmen.<br />
Text: Peter Hossli<br />
Der Physiker Steven Chu, Direktor des Lawrence<br />
Berkeley National Laboratory, spricht<br />
deutliche Worte: «Schaffen wir bis 2050<br />
nicht die Klima umkehr, dann geht in den<br />
USA die Produktion der Nahrungsmittel um<br />
20 Prozent zurück.» Auf den Bergen, so seine<br />
Begründung, liege dann zu wenig Schnee,<br />
um in Kalifornien die Felder mit Wasser zu<br />
versorgen. «Amerika wird hungern.»<br />
Ausser Frage stehe, dass Wälder verdorren<br />
und Küsten überfl utet werden, sagte<br />
Nobelpreisträger Chu. «Nur mit umwälzender<br />
Technologie lässt sich eine Klimakatastrophe<br />
noch abwenden.» Er war erster Redner<br />
der Gesprächsrunde «Radikale Wissenschaft<br />
für einen sich erwärmenden Planeten» am<br />
World Science Summit Ende Mai in New<br />
York. Etliche angesehene Wissenschaftler<br />
würden derzeit nonstop über revolutionäre<br />
Ideen nachdenken, beschrieb er die Aufbruchstimmung<br />
unter Forschern.<br />
Forschung an synthetischen Pflanzen<br />
Chu skizzierte, wie mit Hilfe der Nanotechnologie<br />
neuartige Solarzellen entstehen.<br />
Dann stellte er genveränderte Gräser vor,<br />
aus denen weit komplexere Zuckerarten und<br />
somit hochwertigere Biokraftstoffe gewonnen<br />
werden sollen, als das mit Mais oder<br />
Zuckerrohr möglich sei. Es werde an synthetischen<br />
Pflanzen gearbeitet, die mit Photosynthese<br />
Energie erzeugen. Zum Schluss<br />
zeigte Chu ein Bild der Erde, aufgenommen<br />
vom Mond. «Ist der Blaue Planet nicht wunderschön?»,<br />
fragte er. «Er ist einmalig und<br />
nicht ersetzbar.»<br />
Ein Ansinnen, das der chinesische Umweltminister<br />
Zhenhua Xie teilt. Das rasante<br />
Wachstum seines Landes sei «nicht nachhaltig»,<br />
sagte er. Handle sein Land nicht<br />
rasch, würde der Wirtschaftsboom irreparable<br />
Schäden anrichten. Wohl deshalb erteilte<br />
die chinesische Regierung dem britischen<br />
Ingenieurbüro Arup den Auftrag, auf<br />
einer Insel bei Shanghai die umweltfreundliche<br />
Modellstadt Dongtan zu bauen. Arup-<br />
Direktor Peter Head stellte das Projekt vor<br />
und erklärte, warum jede Stadt der Welt sich<br />
an Dongtan orientieren müsse. «Vor 100<br />
Jahren standen jedem Menschen acht Hektaren<br />
Land zur Verfügung», sagte er. «Heute<br />
sind es noch zwei, doch leben wir so, als ob<br />
diese Verschiebung nie passiert wäre.»<br />
Bis 2010 will Head die erste Phase abschliessen.<br />
Vorerst 7000 Menschen ziehen<br />
dann in Dongtan ein und leben umweltneutral.<br />
Auf eine halbe Million Menschen könne<br />
die Stadt im Lauf der Jahrzehnte anwachsen.<br />
Sie liegt am Meer, sodass Materialien<br />
per Schiff ankommen. Strom wird in Dongtan<br />
durch Wind und in von organischem<br />
Abfall betriebenen Kraftwerken erzeugt.<br />
Umweltfreundlich sind die Baustoffe der<br />
Häuser. Das Wasser wird rezykliert. Es gibt<br />
ein hervorragendes öffentliches Verkehrssystem,<br />
dazu Fahrrad- und Fusswege.<br />
Sämtliche Autos fahren mit Brennstoffzellen<br />
oder Elektrizität. Die Stadt sei daher weit<br />
ruhiger, was ihre Lebensqualität stark erhöhe,<br />
sagte Head. In unmittelbarer Nähe<br />
von Dongtan sollen die meisten Lebensmittel<br />
der Bewohner wachsen.<br />
Das ist Dickson Despommier nicht nahe<br />
genug. «Wir brauchen die Fläche von Brasilien,<br />
um bis 2050 drei Milliarden Menschen<br />
mehr zu ernähren», sagte der Professor für<br />
Umweltschutz und Gesundheit an der Columbia<br />
University. «Brasilien ist aber vergeben.»<br />
Da bereits 80 Prozent des globalen<br />
Agrarlandes bebaut seien, will er mitten in<br />
Städten Kohl und Kartoffeln, Wein oder<br />
Weizen anpflanzen. Bis zum Jahr 2<strong>03</strong>0 würden<br />
80 Prozent der Menschen in Städten<br />
leben. «Dort, wo Menschen leben, muss das<br />
Essen wachsen», so Despommier. «Das ist<br />
nicht nur möglich, es ist zwingend. Nur<br />
wenn wir die Natur allein lassen, kann sie<br />
sich erholen.»<br />
Wohn-, Büro- und Pflanzhäuser<br />
Seit acht Jahren entwickelt er mit seinen<br />
Studenten das kuriose Konzept der vertikalen<br />
Landwirtschaft. Gläserne Wolkenkratzer<br />
sollen sowohl Treib-, Wohn- und<br />
Büro häuser sein. Bewässern will er die<br />
Pflanzen mit städtischem Abwasser. Solarzellen<br />
entlang der Hochhäuser liefern die<br />
Energie für die vertikalen Bauernhöfe. Er<br />
hofft, in der Stadt Incheon bei Seoul einen<br />
ersten Turm errichten zu können, in dem<br />
Reis und Erdbeeren angepflanzt, aber auch<br />
Hühner und Shrimps gezüchtet werden.<br />
Nicht primär der Staat, vor allem der Privatsektor<br />
sei die treibende Kraft hinter revolutionären<br />
Projekten, lautete der Konsens der<br />
Debatte. «Investoren haben erkannt, dass<br />
sie mit radikalen Ideen die Erde retten und<br />
Geld verdienen können», sagte Peter Head.<br />
Ob sich das Klimaproblem nicht von selbst<br />
löse, wenn das Fass Rohöl dereinst 250<br />
Dollar koste, lautete eine Frage aus dem<br />
Publikum. «Das reicht nicht aus», sagte<br />
Physiker Chu und erinnerte an den Ölschock<br />
der Siebzigerjahre. Kaum fielen die Preise,<br />
sank die Dringlichkeit. «Wir befinden uns in<br />
einer Krise. Menschen sind aber eine Gattung,<br />
die Krisen gut meis tert.» <<br />
Fotos: Charly Kurz<br />
Credit Suisse Bulletin 3/<strong>08</strong>