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Niels Klims unterirdische Reise

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väter an, und wenn man die Alten ihre Geschichten erzählen<br />

hört, sollte man meinen, man sei vor etlichen hundert Jahren<br />

schon geboren worden. So viel ich Mitleid mit den Ersteren<br />

hatte, so glücklich pries ich hingegen die Letzteren. Nachdem<br />

ich aber die Umstände beiderlei Volks reichlich erwogen, fand<br />

ich mich in meinem Urteil betrogen. In der Provinz Cambara<br />

gelangt ein jeder Einwohner in wenigen Monaten nach seiner<br />

Geburt zu seinem vollkommenen Verstand und Leibesgröße,<br />

sodass er in einem Jahr ein vollkommener Mann wird, die übrigen<br />

Jahre schienen ihnen nur deswegen gegeben zu sein, dass<br />

sie sich darin auf den Tod vorbereiten sollten. Bei dieser Lage<br />

der Dinge kam mir dieses Land in der Tat wie eine platonische<br />

Republik vor, in der alle Tugenden zur vollkommenen Reife<br />

gelangt waren. Denn da sie in Betrachtung ihrer kurzen Lebenszeit<br />

gleichsam alle Zeit auf dem Sprung stehen und diese<br />

Zeitlichkeit nur als eine Pforte ansehen, durch die sie in das andere<br />

Leben hindurchgehen müssen, so richten sie die Gedanken<br />

mehr auf ihren künftigen als auf ihren gegenwärtigen Zustand.<br />

Folglich kann man hier einen jeden als einen wahren Philosophen<br />

ansehen, der sich um das Irdische wenig kümmert, sondern<br />

nur auf einen dauerhaften und immerwährenden Schatz<br />

bedacht ist, der in Tugend, Gottseligkeit und einem ehrlichen<br />

Namen besteht. Und dass ich’s kurz mache, dieses Land schien<br />

mir eine Wohnung der Engel und Heiligen zu sein, ja ich hielt<br />

es für eine Schule, in der die wahre Tugend und Frömmigkeit<br />

aufs Vortrefflichste gelehrt wurde. Es erhellt auch hieraus, wie<br />

ungerecht das Murren derjenigen ist, die sich über die Kürze<br />

des Lebens beschweren, sich deswegen gleichsam mit Gott zanken,<br />

denn unser Leben kann zwar kurz genannt werden, weil<br />

wir den größten Teil mit Müßiggang und Wollüsten verderben,<br />

es würde uns aber solches lange genug vorkommen, wenn wir<br />

die Zeit besser anwendeten.<br />

In dem anderen Land hingegen, wo die Einwohner über<br />

400 Jahre alt wurden, sah ich alle Laster herrschen, die nur im<br />

menschlichen Leben begangen werden. Man sah hier nur auf

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