Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
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Wulf Koepke betont, „die scheinbar semantische Frage hat mit der Schichtung der Gesellschaft zu<br />
tun: Herder sieht, daß die moderne Gesellschaft Spezialisten erfordert, auch <strong>und</strong> gerade in der<br />
Regierung <strong>und</strong> im Militär; daher ergibt sich eine Klassentrennung.“ 73 Der in die Antike<br />
hineingetragene, idealisierte <strong>Bürger</strong>begriff dient ihm als Paradigma für einen Volksbegriff, der<br />
Regierung nicht als Gegenbegriff zu „Kaufmann <strong>und</strong> Handwerker“ setzt, der Ort einer Synthese<br />
zwischen „Ackersleuten“ <strong>und</strong> „Staatsräten“. Nicht zuletzt kann dies als Hommage an Katharina II.<br />
verstanden werden, die den Ideen der französischen Aufklärung nahe stand.<br />
Die Gr<strong>und</strong>fragen, die Herder in Haben wir noch jetzt das Publikum <strong>und</strong> Vaterland der Alten? erörtert,<br />
sind der Standort <strong>des</strong> zeitgenössischen Publikums <strong>und</strong> die Frage nach dem Ort der Begegnung mit<br />
dem Publikum (die Frage nach Öffentlichkeit).<br />
Während Herder das Publikum bis zu einem gewissen Grad als verloren auffasst, hat für ihn der<br />
Begriff Vaterland große integrative Kraft. Explizit verweist er in seinen Überlegungen auf<br />
Montesquieu. 74 Er konstatiert, dass eine „Religion <strong>des</strong> Vaterlan<strong>des</strong>“ 75 wie in der Antike nicht mehr<br />
existiere. Aber gerade die Verflechtung von Religion <strong>und</strong> Politik, von Mythos <strong>und</strong> Staatsdenken<br />
scheint für Herder attraktiv – so attraktiv, dass er die „Religion <strong>des</strong> Vaterlan<strong>des</strong>“ als irrationales<br />
Integrationsparadigma gegen die französische (Montesquieu, Beaumelle, Baile, Rousseau <strong>und</strong><br />
Diderot) <strong>und</strong> die deutsche Tradition (Grotius, Pufendorf, Haller, Mably, von Moser) in Schutz<br />
nimmt. 76 Das Vaterland erscheint in der Schrift als Vermittler zwischen uneigennützigen Individuen,<br />
Garant der Freiheit <strong>und</strong> wert, um darum zu kämpfen. (In diesem Kontext mag man an den gerade<br />
erst zu Ende gegangenen 7jährigen Krieg denken). Und wieder setzt Herder das Vaterland als<br />
Gegenbegriff zu absolutistischer Herrschaft ein <strong>und</strong> lehnt die auf Eigennutz basierenden<br />
Staatstheorien eines Hobbes oder Machiavelli ab, die<br />
uns die sanfte Empfindung <strong>des</strong> Patriotismus [rauben]; <strong>und</strong> jede schlechte Seele läßt sie sich rauben,<br />
die sich von ihrem Vaterlande loßreißt, <strong>und</strong> nach dem ptolomäischen Weltgebäude, ihren eignen<br />
Erdenkloß zum Mittelpunkt <strong>des</strong> Ganzen macht. 77<br />
Hier wird deutlich, dass Herder Volk <strong>und</strong> Vaterland nicht als partikularistische Konzepte einsetzt,<br />
sondern als identitätsstiftende, universalistische Versöhnungsparadigmata konzipiert.<br />
Herders Betonung dieses universalistischen Konzepts ist auch aus seiner diffizilen Position im<br />
literarischen Feld zu erklären. Sein Universalismus ist eine Strategie, um sich vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
der Trennung von literarischer Intelligenz <strong>und</strong> bürgerlicher Gesellschaft zu positionieren. Herders<br />
73 Koepke: „Volk“ im Sprachgebrauch Herders, S. 211.<br />
74 Vgl. Herder: Publikum <strong>und</strong> Vaterland der Alten, S. 48.<br />
75 Herder: Publikum <strong>und</strong> Vaterland der Alten, S. 49.<br />
76 Vgl. Herder: Publikum <strong>und</strong> Vaterland der Alten, S. 49.<br />
77 Herder: Publikum <strong>und</strong> Vaterland der Alten, S. 51.<br />
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