Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
von Gleichen). 283 Die Überlegungen der Volkspoesiesammler verweisen jedoch auch in eine Richtung,<br />
die Literatur <strong>und</strong> Erzählen eine neue – nicht zuletzt gesellschaftspolitische – Bedeutung zuschreibt.<br />
Indem Völker als Erzählgemeinschaften konzipiert werden, werden Literatur <strong>und</strong> Literaturpraxis zum<br />
identitätsstiftenden Merkmal. Bei Herder findet sich der Ansatz, diese Erzählgemeinschaft auf ein<br />
universales Ideal auszuweiten, durch die Erzählung eine Gemeinschaft der Menschen überhaupt zu<br />
stiften. Daran schließt letztlich auch der aktuelle Diskurs um europäische Identität an, bei dem<br />
ähnliche Fragen verhandelt werden. Auch hier geht es um die Möglichkeit, eine Vielzahl heterogener<br />
Teile in ein Ganzes zu integrieren <strong>und</strong> Gemeinschaft nicht nur zu verordnen, sondern auch affektiv<br />
herzustellen. 284 Gerade hier schiene mir ein Rekurs auf die Konzepte Herders oder, mit der<br />
gebotenen Vorsicht, auch auf die Arnims <strong>und</strong> Grimms durchaus lohnend.<br />
Die formale Einkleidung als ästhetisches Gebilde verweist auch auf die Rolle <strong>des</strong> Konzeptes Volk als<br />
ideologische Form. Dabei muss sie dialektisch betrachtet werden: Gleichzeitig als Ausdruck realer<br />
Bedingungen <strong>und</strong> gesellschaftlicher Kräfte, aber auch als (da als gesellschaftliches Allgemeines<br />
gesetzt) ästhetische Verschleierung konkreter politischer Interessen spezifischer<br />
Gesellschaftsklassen. Dieses Zusammendenken von materiellen Bedingungen, gesellschaftlichen<br />
Interessen <strong>und</strong> symbolischen Formen im Begriff Volk rückt ihn in die Nähe der Institution Kunst <strong>und</strong><br />
macht ihn, wie die Arbeit zu zeigen versuchte, für eine Analyse sehr ergiebig.<br />
Zu leisten wäre freilich noch eine genauere Untersuchung der Überführung <strong>des</strong> Volksbegriffes in die<br />
Nation, auch die Verflechtung der symbolischen Kodierungen mit den materiellen<br />
Gesellschaftsbedingungen im Begriff (<strong>und</strong> damit eine Dekonstruktion ihres ideologischen Gehalts),<br />
sowie eine umfassende Darstellung <strong>des</strong> literarischen Fel<strong>des</strong> nach 1800. Doch dies bleibt künftigen<br />
Arbeiten vorbehalten.<br />
283 Vgl. Anderson: Erfindung der Nation, S. 15-17.<br />
284 Diese Frage wird angedacht bei Schefold: Volk als Tatsache, S. 61.<br />
72