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Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger

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<strong>und</strong> was mehr als alles gilt, die Denkart der Nation selbst National: das Volk mit ein so ansehnlicher<br />

Teil <strong>des</strong> Volks, <strong>des</strong>sen Namen man also nicht so Schamrot oder eckelnd <strong>und</strong> betroffen, ansah <strong>und</strong><br />

abscheute: der Gelehrte nicht bloß leider! für den Gelehrten <strong>und</strong> für den ärgsten von allen den<br />

Volksunwissenden Stubengelehrten, den Grübler, den Rezensenten, sondern für Nation! Volk! einen<br />

Körper, der Vaterland heißt! schreibend <strong>und</strong> sammlend <strong>und</strong> den wir Deutsche (so viel wir davon<br />

schwatzen, singen <strong>und</strong> schreiben) noch nichts weniger als haben, vielleicht nimmer haben werden<br />

[…]! 100<br />

Deutlich kämpft Herder hier gegen die diminutive Bedeutung <strong>des</strong> Volksbegriffes (als Synonym zu<br />

Pöbel) – Volk ist aber gleichzeitig der Einsatz gegen den klassischen Gelehrten <strong>und</strong> den<br />

Literaturbetrieb. Auffällig ist die doppelte Körpermetapher – das Volk bildet einen Körper, der<br />

Vaterland heißt <strong>und</strong> dieser Körper sind nicht zuletzt die Lieder. Hier der Körper als Ergebnis <strong>des</strong><br />

Sammelns gefasst, als fragmentiertes Ganzes, wobei dem Philologen die Rolle zukommt, die Teile zu<br />

einem organischen Ganzen zusammenzufügen <strong>und</strong> eine kulturelle Identität der Teile herzustellen.<br />

Die organische Metaphorik setzt sich fort, als Herder von Deutschland mit einer Baummetapher<br />

spricht oder es als „blutende Sklavin“ <strong>und</strong> „Kräfterschöpfende Säugamme“ bezeichnet. 101 Am<br />

einleitenden Satz wird auch fassbar, wie Herder die Begriffe „Nation“ <strong>und</strong> „Volk“ synonym gebraucht,<br />

wenngleich Wulf Koepke anmerkt, es muss „bei „Völker“ mehr an die konkreten Individuen gedacht<br />

werden, bei „Nationen“ an eine abstraktere oder ideelle Einheit.“ 102 Er schränkt jedoch ein, dass<br />

diese Unterscheidung nicht unbedingt zu verallgemeinern sei.<br />

An der Nation Deutschland lässt sich hier ablesen, dass Herder nunmehr auch den Volksbegriff<br />

zunehmend feminisiert. So sagt er: „Und nun nehme ich jeden Mann, <strong>und</strong> in dieser Gattung<br />

Gesanges noch lieber, je<strong>des</strong> Weib von Gefühl zu Zeugen [….].“ 103 Hier wird Sinnlichkeit <strong>und</strong><br />

Weiblichkeit verknüpft, der weibliche M<strong>und</strong> wird zum Mutterm<strong>und</strong> der Volksseele naturalisiert; die<br />

Konzeption Mutterm<strong>und</strong>es als Quelle der Volkspoesie tritt spätestens bei Jacob <strong>und</strong> Wilhelm Grimm<br />

wieder stark in den Vordergr<strong>und</strong>. 104<br />

In ihrer Begrifflichkeit werden die Begriffe Volk <strong>und</strong> Volkspoesie vor einem organisch-sinnlichen<br />

Hintergr<strong>und</strong> aufgespannt. Der Gegensatz dazu ist „vornehm, gebildet <strong>und</strong> allgesättigt“ 105 – denn<br />

Herder bestimmt die Sinnlichkeit anthropologisch:<br />

Wenn nun für die Sinne <strong>des</strong> Volks rührende, treue gute Geschichten, <strong>und</strong> keine Moral, eine Einzige<br />

Moral: für ihr Ohr rührend simple Töne <strong>und</strong> keine Musik, die einzige Musik ist: <strong>und</strong> wenn jede<br />

100 Herder: Volkslieder, S. 20.<br />

101 Herder: Volkslieder, S. 21,22. – Henning Buck sieht Herder hier als „‘Gestiker‘ <strong>des</strong> Leidens an Deutschland“<br />

(Buck: Spannungsfeld Volk-Nation-Europa, S. 24). Rudolf Große betont diesbezüglich: „Trotz aller biologischmetaphorischen<br />

Einkleidung […] sieht Herder die Entwicklung doch gesellschaftsgeschichtlich“, <strong>und</strong> betont den<br />

Aspekt der Praxis <strong>und</strong> der Dialektik zwischen einzelnem Subjekt <strong>und</strong> Gesellschaft (Große: „Volk“ bei Herder, S.<br />

306).<br />

102 Koepke: „Volk“ im Sprachgebrauch Herders, S. 213.<br />

103 Herder: Volkslieder, S. 18.<br />

104 Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 35-37.<br />

105 Herder: Volkslieder, S. 17.<br />

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