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Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger

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Durch diese Aufwertung <strong>des</strong> Begriffes ist für Herder auch klar, dass die Bestimmung <strong>des</strong><br />

Begriffsinhaltes von „Volk“ nicht beliebig sein kann <strong>und</strong> sie sich – im Interesse einer Bestimmung <strong>des</strong><br />

Begriffes als humanitäres Paradigma – nicht beliebig auf Unterschichten beziehen lässt:<br />

Zum Volkssänger gehört nicht, daß er aus dem Pöbel sein muß, oder für den Pöbel singt; so wenig es<br />

die edelste Dichtkunst beschimpft, daß sie im M<strong>und</strong>e <strong>des</strong> Volks tönet. Volk heißt nicht, der Pöbel auf<br />

den Gassen, der singt <strong>und</strong> dichtet niemals, sondern schreit <strong>und</strong> verstümmelt. 112<br />

Das Volk ist demnach nicht der Pöbel, Volkspoesie auch nicht Poesie für den Pöbel – damit kann<br />

keine ästhetische Synthese hergestellt werden. Herder spielt auf einen Mittellage an – Volkspoesie<br />

ist nicht niedere Literatur (wie Moritaten, Bänkelsang oder Schwänke, die sich in Nicolais Sammlung<br />

finden), aber auch nicht die hohe <strong>und</strong> elitäre Literatur der Orthodoxie; denn gerade das Tönen „im<br />

M<strong>und</strong>e <strong>des</strong> Volkes“, die Alltagspraxis, würden die spezifische Integrationskraft ausmachen. Damit<br />

sind „Volk“ <strong>und</strong> „Volkspoesie“ als Kippfiguren zwischen Unterschicht <strong>und</strong> Elite installiert: In<br />

Opposition zur Orthodoxie wird das Bild einer (freilich idealisierten) Unterschicht evoziert, während<br />

im Gegensatz dazu gleichzeitig die Bindung an die Unterschicht verneint wird. Es handelt sich also<br />

nicht nur um Lieder <strong>des</strong> Volkes, sondern auch um Lieder für das Volk.<br />

Kurioserweise wird dieser Kippmechanismus gerade von Nicolai in der Auseinandersetzung um die<br />

Volkslieder sehr deutlich erfasst. Nicolai, einflussreicher Verlagsbuchhändler <strong>und</strong> selbst Schriftsteller,<br />

stellt dabei eine Doppelgestalt dar, angesiedelt an der Grenze zwischen dem Feld der Kunst <strong>und</strong> der<br />

Ökonomie. Bourdieu beschreibt diese Vermittlungsinstanzen zwischen den Kreisen als<br />

„zwieschlächtig“ 113 , da gerade an Ihnen die unterschiedlich wirkenden Marktmechanismen deutlich<br />

werden. Friedrich Nicolai folgte mit Eyn feyner kleyner Almanach vol schönerr echterr liblicherr<br />

Volckslieder, lustigerr Reyen <strong>und</strong>dt kleglicherr Mordgeschichte, gesungen von Gabriel W<strong>und</strong>erlich<br />

weyl. Benkelsengernn zu Dessaw, herausgegeben von Daniel Seuberlich, Schusternn tzu Ritzmück ann<br />

der Elbe dem „Herderschen Aufruf zur Sammlung von Volks- <strong>und</strong> Provinzialliedern auf Straßen <strong>und</strong><br />

Fischmärkten treulicher […] als Herder selbst.“ 114 Darin hatte Nicolai – mit dem scheinbar gleichen<br />

Kriterium wie Herder, nämlich der alltagspraktischen Verwendung als Auswahlkriterium –<br />

unterschiedlichste Formen der Volkspoesie gesammelt <strong>und</strong> hält Herder diese – wie der<br />

archaisierende Titel zeigt – mit einiger Ironie entgegen. Er wirft Herder vor, man müsse sich erst<br />

112 Herder: Volkslieder, S. 239. – Hier widerspreche ich Rudolf Große, wenn er in der „soziologischen“<br />

Bedeutungsvariante <strong>des</strong> Volksbegriffes bei Herder eine „ausgesprochene Wertschätzung der Volksmassen“<br />

findet. (Große: „Volk“ bei Herder, S. 309). Große kommentiert die zitierte Stelle mit „die Eigenschaften sind<br />

aber nicht an Klassen <strong>und</strong> Stände geb<strong>und</strong>en“ <strong>und</strong> dem Argument hier überwiege die „moralische<br />

Wertkomponente“. (Große: „Volk“ bei Herder, S. 311). Dies überzeugt jedoch nicht <strong>und</strong> scheint mir Herder<br />

doch zu sehr zum Vorkämpfer der arbeitenden Klassen zu stilisieren. Dagegen vgl. auch Koepke: „Volk“ im<br />

Sprachgebrauch Herders, S. 211f. <strong>und</strong> S. 216, der eine Annäherung der „soziologischen“ an die „ethnische“<br />

Bedeutungsschicht annimmt <strong>und</strong> das Volk als „die große Masse der Menschen einer Gesellschaft“ identifiziert.<br />

113 Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 239. Vgl. auch S. 343.<br />

114 Vgl. Gaier: Kommentar zu „Volkslieder“, S. 898.<br />

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