Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
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unterstreicht den Anspruch der KHM, eine mündliche Tradition abzubilden. Darauf folgt die bekannte<br />
Stelle, an der die Grimms pars pro toto ihre Quelle, Dorothea Viehmann, beschreiben:<br />
Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Kassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine<br />
Bäuerin kennenlernten, die uns die meisten <strong>und</strong> schönsten Märchen <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> erzählte. Die<br />
Frau Viehmännin war noch rüstig <strong>und</strong> nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas<br />
Festes, Verständiges <strong>und</strong> Angenehmes, <strong>und</strong> aus großen Augen blickte sie hell <strong>und</strong> scharf. 244<br />
Dorothea Viehmann wird als rüstige Bäuerin beschrieben, als weise alte Frau. Indem sie die einzige<br />
genannte Quelle ist, wird das von ihr entworfene Bild stillschweigend für alle Beiträger <strong>und</strong><br />
Beiträgerinnen verallgemeinert <strong>und</strong> der Eindruck hervorgerufen, es handle sich dabei um einfache<br />
Landmenschen. (Zur tatsächlichen Sammelpraxis siehe unten.)<br />
Gleichzeitig ist damit der Mutterm<strong>und</strong> (Friedrich Kittler) als Quell der Volksweisheit <strong>und</strong> als<br />
Ausdrucksort <strong>des</strong> Volksgeistes lokalisiert. Die oft betriebene Naturalisierung <strong>des</strong> Begriffes Volk<br />
bekommt in den KHM insofern eine neue Dimension, als dass die Natur nunmehr mit dem<br />
Mutterm<strong>und</strong> der Bäuerin zusammenfällt. (Es ist der alte, mütterliche M<strong>und</strong> <strong>und</strong> nicht derjenige der<br />
jungen, begehrenswerten – <strong>und</strong> damit gefährlichen – Frau; nicht umsonst werden die jungen<br />
Schwestern Hassenpflug oder die Töchter Wild nicht erwähnt; Dorothea Wild heiratete schließlich<br />
Wilhelm Grimm). Die Funktion der Frau, so Friedrich Kittler, als „Natur im Aufschreibesystem vor<br />
1800“ ist es, „Menschen <strong>und</strong> d.h. Männer zum Sprechen zu bringen.“ 245 Die Frau als initium <strong>des</strong><br />
Diskurses – hier feminisiert die Vorrede nicht nur die Gattung selbst, sondern das weibliche Volk als<br />
Träger <strong>des</strong> (freilich von den Männern entwickelten) Kerns. „Das Gleichungssystem<br />
Frau=Natur=Mutter dagegen erlaubt es, Kulturisation mit einem unvermittelten Anfang<br />
anzufangen“ 246 – die Frau steht hier auch als Anfang der deutschen Kulturnation, (die ja ebenfalls in<br />
stark feminisierten Bildern beschrieben wird), ist Objekt <strong>des</strong> Begehrens (Phallus im Sinne Lacans) der<br />
männlichen (Poesie-)Sammler, freilich zum Preis der gesellschaftlichen (<strong>und</strong> nicht zuletzt sexuellen)<br />
Marginalisierung eines darauf aufgebauten männlichen Gedankengebäu<strong>des</strong>.<br />
3.5.2. Volk, Epos <strong>und</strong> Geschichte bei Jacob Grimm<br />
Das Vorwort zu den KHM lässt bereits anklingen, dass die Märchensammlung einem bestimmten<br />
geschichtsphilosophischen Modell verpflichtet ist. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieses Modells entwickelt<br />
vor allem Jacob Grimm sein Konzept von Volk <strong>und</strong> Volkspoesie.<br />
3.5.2.1. Anschlüsse: Herder, Savigny, Schelling<br />
Die geschichtsphilosophische Konzeption Grimms schließt vor allem an Herder, dem<br />
Rechtsphilosophen Carl Friedrich von Savigny (bei dem Jacob <strong>und</strong> Wilhelm Grimm in Marburg<br />
244 Grimm: KHM I, S. 19.<br />
245 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 35.<br />
246 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 38.<br />
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