Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
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diese jedoch zu veröffentlichen. „Für das Publikum sollte die Sammlung sozusagen den anonymen<br />
Volksgeist repräsentieren, hinter dem die Einzelbeiträger <strong>und</strong> die Umstände der Textgewinnung<br />
zurückzutreten hatten.“ 233 Arnim veranlasste schließlich die Veröffentlichung der Sammlung <strong>und</strong><br />
vermittelte auch seinen Berliner Verleger für die Sammlung.<br />
Der Titel Kinder- <strong>und</strong> Haus-Märchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm (in Folge: KHM) drückt<br />
bereits die Orientierung auf den gutbürgerlichen Massenmarkt aus. Auch der Druck im Oktavformat<br />
<strong>und</strong> der Preis von 1 Taler 18 Groschen gingen in diese Richtung. Die erste Ausgabe enthielt noch<br />
wissenschaftliche Anmerkungen <strong>und</strong> versuchte den Spagat zwischen wissenschaftlicher Publikation<br />
<strong>und</strong> Populärliteratur – <strong>und</strong> wurde die am schlechtesten abgesetzte Auflage. Durch die zunehmende<br />
Überarbeitung der Märchen durch Wilhelm Grimm ab der Ausgabe von 1819, die Abtrennung der<br />
Anmerkungen in einen eigenen Band <strong>und</strong> die Veröffentlichung einer sog. Kleinen Ausgabe ab 1825<br />
zum Preis von einem Taler, die eine Auswahl von 50 Märchen <strong>und</strong> zwei Bildern enthielt, wurde die<br />
Sammlung zu einem durchschlagenden Erfolg. 234<br />
3.5.1. Die KHM-Vorrede von 1819<br />
An dieser Stelle gebe ich der Vorrede zum ersten Band der KHM von 1819 gegenüber derjenigen von<br />
1812 den Vorrang, da mit der Ausgabe von 1819 der Schritt zum Bestseller getan wurde. Bei dem<br />
Text haben wir es nach Genette mit einem Paratext zu tun, der „eine gute Lektüre <strong>des</strong> Textes zu<br />
gewährleisten“ sucht. 235 Darin finden sich zentrale Prämissen <strong>und</strong> Versuche, Leserlenkung zu<br />
betreiben.<br />
Bereits zu Beginn wird ein beziehungsreiches Bild verwendet: Ein Feld wird vom Sturm geschlagen,<br />
doch an geschützten Plätzen halten sich einige Ähren, die unbeachtet zur Reife gelangen. Sind sie<br />
reif, ernten sie arme Menschen, die die wenigen Ähren höher schätzen als alle anderen Gaben <strong>und</strong><br />
für die sie „vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft“ sind. 236 Das Bewusstsein, die letzten<br />
Ähren eines einst vollen Fel<strong>des</strong> zu sammeln, das fast Verlorene zu bewahren, wird ganz an den<br />
Anfang der Sammlung gestellt. Nicht eine Zeitdiagnose, sondern ein Verfallsszenario steht am Beginn<br />
der KHM.<br />
Die Märchen trügen ihre „Notwendigkeit in sich“ <strong>und</strong> sind „gewiß aus jener ewigen Quelle<br />
gekommen, die alles <strong>Leben</strong> betaut“. 237 Damit ist angedeutet, was in anderen Aufsätzen ausgeführt<br />
wird: Die Märchen sind der Zugang zu einer ewigen (mithin nicht historisch gedachten) Quelle <strong>und</strong> zu<br />
einer das <strong>Leben</strong> transzendierenden Ordnung. Dies wird hier gleichzeitig als Rechtfertigung für die<br />
233 Rölleke: Märchen der Brüder Grimm, S. 80.<br />
234 Vgl. Rölleke: Märchen der Brüder Grimm, S. 82-93.<br />
235 Genette: Paratexte, S. 191.<br />
236 Grimm: KHM I, S. 15.<br />
237 Grimm: KHM I, S. 16.<br />
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