Diplomarbeit - Leben und Werk des Dichters Gottfried August Bürger
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zu dem Einzelnen“. 207 Gleichzeitig konstatiert er eine Abstraktion vom Individuum, eine Entfremdung<br />
vom Gemeinwesen, die sich ins Volk einsenkt:<br />
Das Volk kam dahin, die Gesetze, wie Sturmwind, oder irgend eine andre unmenschliche Gewalt zu<br />
betrachten, wogegen Waffnen, oder Verkriechen oder Verzweifeln diente. In diesem Sinne wurde<br />
lange geglaubt, viele zusammen könnten etwas werden, was kein Einzelner darunter zu seyn brauche<br />
[…]. Man wollte keinen Krieger, doch wollte man Kriegsheere, man wollte Geistlichkeit, aber keinen<br />
einzelnen Geist. 208<br />
Arnims Analyse erfasst scharf den Fetischcharakter der Gesetze eines solchen entfremdeten<br />
Gemeinwesens, die Gesetze treten dem Einzelnen wie Naturgewalten entgegen. 209 Hier wird also die<br />
Verurteilung <strong>des</strong> bloß Allgemeinen in einen größeren historischen Zusammenhang eingeordnet –<br />
ähnlich wie bei Schiller. Arnim sieht jedoch die Lösung nicht wie Schiller in einem Ideal, sondern in<br />
der freien Tätigkeit <strong>des</strong> Volkes, einer organischen Einheit von Kunst <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> einer Erneuerung<br />
der Kunst aus der Tätigkeit heraus. 210<br />
Die Konkretion ist für ihn die unabdingbare Gr<strong>und</strong>lage der Allgemeinheit, kein Baum ohne Stamm<br />
<strong>und</strong> Wurzel. Durch diese Verdrängung <strong>des</strong> Konkreten aus dem „Lehr- <strong>und</strong> Wehrstande“ wurde das<br />
Volkslied in den „Nährstand“ verdrängt, bewahrt „in mäßiger Liebe, Gewerb- <strong>und</strong> Handelsklagen,<br />
Wetterwechsel <strong>und</strong> gepflügtem Frühling.“ 211 Wieder beschwört Arnim das Bild eines organischen<br />
Volkskörpers, in dem alle Glieder aufeinander angewiesen sind <strong>und</strong> konstatiert eine Entfremdung der<br />
Glieder voneinander <strong>und</strong> von der ureigenen Tätigkeit – eine „Scheidung zwischen Freude <strong>und</strong><br />
Bedürfnis“. 212 Diese Entfremdung der Arbeitsprozesse (in denen niemand mehr sein eigener Herr ist,<br />
wie Arnim anmerkt) führe zu einer Zerstörung <strong>des</strong> Brauchtums. Indem die oben aufgestellte Kette<br />
Erde-Land-Landmann-Dialekt-Naturpoesie-Stamm defizitär wird, das Verhältnis von Landmann <strong>und</strong><br />
Land nicht mehr im Gleichgewicht ist, kann auch keine Volkspoesie darauf aufbauen.<br />
Bemerkenswert an Arnims Analyse ist, dass es sich nicht nur um eine Entfremdungsdiagnose handelt,<br />
wie noch bei Schiller, sondern hier explizit das Problem <strong>des</strong> Politischen angesprochen wird:<br />
Aber was rede ich von Kindern, während die Politiker zehnmal in einer Viertelst<strong>und</strong>e zwischen<br />
Aufklärung <strong>und</strong> Verfinsterung die Welt wenden lassen, weil es in ihre Köpfe aus allen Ecken hineinbläst<br />
[…]. Das Wandern der Handwerker wird beschränkt, wenigstens verkümmert, der Kriegsdienst in<br />
fremdem Lande hört ganz auf, den Studenten sucht man ihre Weisheit allenthalben im Vaterlande<br />
auszumitteln <strong>und</strong> zwingt sie voraus darin zu bleiben, während es gerade das höchste Verdienst freyer<br />
207 Arnim/Brentano: W<strong>und</strong>erhorn I, S. 417.<br />
208 Arnim/Brentano: W<strong>und</strong>erhorn I, S. 418.<br />
209 Vgl. MEW 23, S. 85-88. – Im ersten Band <strong>des</strong> Kapital, Kapitel 1 analysiert Marx den Fetischcharakter der<br />
Warenform, die „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche<br />
Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt,<br />
daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existieren<strong>des</strong><br />
gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ (S. 86)<br />
210 Vgl. Ricklefs: Geschichte, Volk, Verfassung, S. 71. – Dort führt er die in Arnims Zeitdiagnose aufgestellten<br />
Antagonismen auf das gr<strong>und</strong>legende Verhältnis von Substanz <strong>und</strong> Form zurück.<br />
211 Arnim/Brentano: W<strong>und</strong>erhorn I, S. 418.<br />
212 Arnim/Brentano: W<strong>und</strong>erhorn I, S. 418.<br />
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