29.12.2012 Aufrufe

Untitled

Untitled

Untitled

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

steckte? Es war naheliegend. So gerissen und argwöhnisch einerseits, auf fremde<br />

Geheimnisse erpicht er andererseits war. Ein doppelbödiger Charakter, immer zum Spiel<br />

aufgelegt - am liebsten<br />

einem, dessen Regeln nur er kannte.<br />

241<br />

Und wenn es so war: um so besser.<br />

Leise, um Stieglitz nicht zu stören, weckte er Jemelja. Erklärte ihm halblaut, was zu tun war,<br />

in knappen Worten. Jemelja war nicht so schwer von Begriff, wie er aussah.<br />

Er zog sich schweigend an, fuhr sich einmal mit gespreizten Fingern durch den blonden<br />

Haarschopf, zog die Schirmmütze darüber. So einen sah man und vergaß ihn gleich wieder.<br />

Ein gewöhnlicher Fabrikarbeiter, wie sie in Lobastows Manufaktur zu Tausenden<br />

vorkamen.<br />

Er führte das Pferd aus dem Schuppen, warf die Säcke in den Schlitten, breitete nachlässig<br />

eine Lage Lindenbast darüber, und schon glitt das Gefährt die Brache querfeldein über den<br />

frisch gefallenen<br />

Schnee, auf die dunklen Speicherhäuser zu.<br />

Nun hieß es warten.<br />

Grin saß reglos am Fenster, zählte seine Herzschläge und konnte es wie feinste Nadelstiche<br />

spüren, daß das zerschnittene Fleisch sich schloß, Bruchflächen sich<br />

aneinander-schmiegten,<br />

neue Hautzellen aufeinander zuwuchsen.<br />

Um halb acht trat der Stellwerker Matwej auf den Hof heraus. Den einzigen Raum seines<br />

Büdchens hatte<br />

er an die Gäste abgetreten, schlief selbst auf dem Heuboden. Ein mürri-<br />

scher, wortkarger Mann. Solche mochte Grin. Matwej hatte keine Fragen gestellt. Wenn die<br />

Partei ihm Leute schickte, mußte das seine Richtigkeit haben. Wenn die nicht sagten, wieso<br />

und warum, dann hatte es so zu sein. Matwej griff eine Handvoll Schnee, rieb sein Gesicht<br />

damit ab und machte sich wiegenden Schrittes, den Rucksack mit dem Werkzeug<br />

schwenkend, auf den Weg ins Depot.<br />

Stieglitz erwachte kurz nach zehn.<br />

Er sprang nicht gleich auf, frisch und munter wie sonst. Er-<br />

119<br />

hob sich schwerfällig, blickte Grin nur kurz an, sprach keinen<br />

Ton. Ging sich waschen.<br />

Es war nicht zu ändern. Den Jungen gab es nicht mehr, dafür hatte die Kampfgruppe ein<br />

neues Mitglied. Auch seine Farbe hatte sich seit gestern merklich verändert: nicht mehr<br />

dieser zarte Pfirsichton. Dichter, kräftiger.<br />

Gegen Mittag war ihr Problem gelöst.<br />

Jemelja hatte mit eigenen Augen gesehen, wie das Geld in einen Waggon voller Säcke mit<br />

Textilfarbe geladen wurde, die für Lobastows Petersburger Filiale bestimmt war; zum<br />

Schluß kam die Plombe davor. Eine kleine Lokomotive zog den Waggon zum<br />

Rangierbahnhof, wo er an einen Güterzug angekoppelt werden würde; um drei Uhr<br />

nachmittags sollte der Zug die Stadt in gemächlichem Tempo verlassen.<br />

Das übrige war Julies Sache.<br />

Grins Herz schlug gleichmäßig, ein Schlag pro Sekunde. Der<br />

Organismus war dabei, sich<br />

zu regenerieren.<br />

Alles war gut.<br />

243<br />

NEUNTES KAPITEL, in welchem viel von Rußlands<br />

Gegenwart und Zukunft die Rede ist<br />

Den Rest dieser schlaflos, ruhelos und ratlos verbrachten Nacht war Fandorin auf dem<br />

Nikolaus-Bahnhof gewesen -in der Hoffnung, das Geschehene rekonstruieren und Spuren<br />

der Täter finden zu können. Obwohl es jede Menge Zeugen gab, blau uniformierte ebenso

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!